Dass vor zwei Jahren ein Flüchtlingszentrum abbrannte in Södertälje, ist kein Thema an diesem sonnigen Vormittag. Die sozialdemokratische Bürgermeisterin, die wie so viele ihrer Genossen stolz das Parteiabzeichen am Revers trägt, macht einen entschlossenen Eindruck. Für den Frohsinn, der Generationen von Astrid-Lindgren-Fans weltweit als kollektive schwedische Eigenschaft vermittelt wurde, ist allerdings kein Raum. Für eine ungeschönte Analyse auch nicht. Denn dann müsste Boel Godner mehr erzählen. Über Spannungen nicht nur unter den christlich-orthodoxen Irakern, über den Zorn von Alteingesessenen, über den Gemeinderat mit seinen rot-grünen und den rechten Sverigedemokraterna, über Ängste in Plattenbausiedlungen, über Gettos und Perspektivlosigkeit. "Klein-Bagdad", hatte die "Neue Zürcher Zeitung" schon vor Jahren getitelt.
Aber das Glas ist immer halb voll, der Pragmatismus angesichts der Zahlen beeindruckend. Just in den Tagen, in denen sich Gisela Erler, Baden-Württembergs Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft, vor Ort einen Eindruck von der Lage macht, werden immer neue Rekorde vermeldet. In nur einer Woche beantragten fast 9000 Menschen Asyl in ganz Schweden mit seinen zehn Millionen Einwohnern, für 2015 werden insgesamt 150 000 Zuwanderer erwartet. Für die kalten Wintermonate sollen Zeltstädte gebaut werden.
Noch einem ist jede Leichtigkeit fremd im Gespräch mit den deutschen Gästen: Jonas Eriksson, Fraktionschef der Grünen, die hier "Miljöpartiet de gröna" heißen. Die hob ab bei den Europawahlen 2014 auf 15,3 Prozent und fand sich nur vier Monate später im Riksdag bei knapp sieben wieder in der rot-grünen Regierung von Stefan Löfven. Über eine Mehrheit verfügt sie nicht, was Tradition hat im schwedischen Parlament und nicht weiter schlimm wäre, würde der bürgerliche Block in der zentralen Frage des Haushalts nicht ungeniert gemeinsame Sache machen mit den Rechtsradikalen, den "xenophoben Populisten", so Eriksson.
Nach monatelanger Hängepartie pokerte Premier Löfven Ende 2014 hoch, kündigte Neuwahlen an und gewann mit Hilfe Einzelner vom radikalen Rand, die die Angst vor dem Mandatsverlust befiel. Der sogenannte Dezemberpakt zwischen den Lagern sicherte das Budget – vor zwei Wochen kündigte ihn der bürgerliche Block auf. Jetzt bestehe die große Gefahr, dass Teile der Sozialdemokratie ideologisch nach rechts rücken, prognostiziert der Grüne traurig.
Der rote Justizminister will abschieben
Tatsächlich nimmt Justizminister Morgan Johansson plötzlich einen Begriff in den Mund, von dem die Mehrzahl der schwedischen Fachleute beim gemeinsamen Workshop zu Integrationsfragen mit Erler in Stockholm so tut, als sei er gar nicht Bestandteil heimischer Asylpolitik. Der Sozialdemokrat will abgelehnte Asylbewerber, derzeit rund 6600, abschieben: "Wenn diese Personen nicht freiwillig ausreisen, werden sie per Flug in die Heimat transportiert." Johansson thematisiert auch die schon lange umstrittene Niederlassungsfreiheit. Nach den aktuellen Zahlen suchen überhaupt nur 50 Prozent alle Einreisenden um Asyl an. Andere ziehen weiter, in die Illegalität oder vor allem zu Verwandten. Die Iraker vornehmlich nach Södertälje, wo vielköpfige Familien auf kleinstem Raum leben und Obdachlosigkeit an der Tagesordnung ist, wenn im Streit Brüder, Schwestern oder Cousins wieder ausziehen müssen.
Gerade an der Niederlassungsfreiheit zeigen sich die Schwächen des Systems, die Schieflage in den Debatten und wie unredlich bürgerliche Parteien Ängste schüren mit dem Ziel, wieder an die Macht zu kommen. Bei seinem Besuch der Kanzlerin in Berlin verlangt Regierungschef Lövfen dieser Tage solidarische europäische Verteilungsquoten. Im eigenen Land sind die aber bisher nicht durchzusetzen. Sozialdemokratisch geführte Gemeinden werden so seit Jahren überbelastet, weil ihre Arme schon immer offener waren. Der 2014 abgewählte Mitte-rechts-Regierungschef Frederik Reinfeldt wusste um die Ungerechtigkeit. Seine Heimatgemeinde Täby hat den zweifelhaften Ruf, nicht einmal 50 Einwanderer aufgenommen zu haben. Dennoch kanzelte er rot-grüne Forderungen nach einem Ende der freien Ortswahl ab als "Gemeindearrest".
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