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Forstwirtschaft im Wandel

Wie die Axt im Walde

Forstwirtschaft im Wandel: Wie die Axt im Walde
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 Fotos: Jens Volle 

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Landesweit pflügen tonnenschwere Erntemaschinen durch den Wald – und verschärfen die Probleme, die dieser durch den Klimawandel ohnehin schon hat. Stuttgart hat sich hingegen für eine schonende Art der Forstwirtschaft entschieden. Wenn auch erst auf Druck einer Bürgerinitiative.

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Ja wo sind denn die Pferde? Auf dem Triebweg von Stuttgart-Feuerbach nach Weilimdorf ist lange nichts zu entdecken. Da ertönt ein gedämpfter Ruf, und bald sieht man sie: Julian Sartorius zieht mit seinem Rappen Nick Baumstämme aus dem Wald. Der 950 Kilogramm schwere Kaltblüter der französischen Rasse Percheron ist ein Rückepferd, er transportiert gefällte Baumstämme innerhalb des Waldes. Nick kann ohne Weiteres ein Viertel seines Eigengewichts ziehen, erklärt der Gärtner und Pferdehalter Sartorius. Das Tier ist kaum zu bremsen, weiß aber noch nicht, wohin zwischen all den Bäumen. Altpferde fänden den Weg fast alleine.

Nachdem Rückepferde in den 1960er-Jahren zunehmend von landwirtschaftlichen Maschinen verdrängt wurden, sind sie nun langsam wieder auf dem Vormarsch, wenn es um nachhaltige Forstwirtschaft geht. Sie sind aber nur ein Baustein in der neuen Waldstrategie der Stadt Stuttgart, die der Gemeinderat vor drei Jahren beschlossen hat. "Klimastabilität, Schutzwirkung und Erholungsvorsorge" sind nach der neuen Zielsetzung der Stadt wichtiger als die Holzproduktion. Als einzige Stadt im Südwesten hat Stuttgart seit 2019 einen Waldbeirat. Die Bürgerinitiative Zukunft Stuttgarter Wald hat den Stein ins Rollen gebracht.

Am Wald scheiden sich die Geister. Die Forstwirtschaft beharrt darauf, den Begriff der Nachhaltigkeit erfunden zu haben. Aber die Trockensommer 2018 und 2019 haben gezeigt, dass es so wie in den letzten 200 Jahren nicht weitergehen kann. 245.000 Hektar Wald sind in diesen beiden Jahren abgestorben – 2,1 Prozent der gesamten deutschen Waldfläche. Besonders betroffen sind Monokulturen mit Nadelbäumen, die kaum dürreresistent sind. Der Fichte, bisher Holzlieferant Nummer eins, geben auch Anhänger der konventionellen Forstwirtschaft keine Zukunft mehr.

Lübeck als Vorbild für Stuttgart

Für Jörg Noetzel begann alles im Mai 2018. Gegenüber seiner Wohnung in Stuttgart-Botnang wurden massiv Bäume gefällt, weit außerhalb der Fällperiode, die im Februar endet. Riesige Maschinen hinterließen tiefe Spuren im Waldboden. Jahrelang waren die Blätter der Laubbäume oben frühzeitig braun, ein deutliches Zeichen, dass sie unter Trockenheit litten.

Noetzel war entsetzt. Der Mediziner, damals Geschäftsführer des Klinikverbunds Südwest in Böblingen und Calw, heute des Klinikums Darmstadt, mobilisierte Spaziergänger:innen, lud Gemeinderät:innen ein und begann, sich zu informieren. Mit Robert Hoening, Wirtschaftsingenieur, Begründer der Solaroffensive Botnang und einer Energie- Quartiersgenossenschaft, nahm er Kontakt zu anderen Initiativen auf, unter anderem im Stadtteil Frauenkopf.

Über die Bundes-Bürgerinitiative Waldschutz (BBIWS), die seit 2017 lokale Initiativen vernetzt und deren Anliegen bündelt, stießen sie auf Lutz Fähser, der von 1986 bis 2009 das Forstamt Lübeck geleitet hat. Der Lübecker Stadtwald ist mit 5.000 Hektar ungefähr so groß wie der Stuttgarter Wald. Fähser hat dort ein neues Konzept der Waldwirtschaft entwickelt, das Lübecker Modell, das weltweit auf Interesse stößt. Mehr als 30 Projekte auf allen Kontinenten hat er geleitet.

Waldsterben: Forstwirtschaft trägt Mitverantwortung

Hintergrund für Fähsers Aktivität war das Waldsterben der 1980er-Jahre. Ganze Wälder im Erzgebirge und anderswo waren tot. Als Ursache galt der saure Regen. Durch Rauchgasentschwefelung der Kraftwerke und Katalysatoren für Automotoren gelang es, die Schwefel- und Stickoxidemissionen drastisch zu senken. Aber nun kamen die Borkenkäfer. Ausgerechnet der Bayrische Wald, der erste Nationalpark Deutschlands, war besonders stark betroffen. Da fällte die Region eine wegweisende Entscheidung: überhaupt nicht mehr einzugreifen. Heute ist der Bayrische Wald so lebendig wie nie, wie Lisa Eders Film "Der wilde Wald" aus dem Jahr 2021 eindrucksvoll vor Augen führt. Er hat sich selbst regeneriert.

Das heutige Waldsterben ist auf Ursachen zurückzuführen, die in den 1980er-Jahren ebenfalls schon eine Rolle spielten: zunehmende Trockenheit infolge des Klimawandels, aber auch die Art der Forstwirtschaft, die seit 200 Jahren betrieben wird. Im sogenannten Altersklassenwald werden ganze Flächen abgeholzt und mit schnell wachsenden Fichten wieder aufgeforstet. So gelang es im 19. Jahrhundert, einer Zeit rapider Urbanisierung, den Bauholzbedarf zu decken.

Heute stößt dieses Vorgehen an seine Grenzen. Fichten-Monokulturen sind dem Klimawandel nicht gewachsen. Die Alternative, die der Forstwissenschaftler Alfred Möller schon vor 100 Jahren aufgezeigt hat, heißt Dauermischwald. Ein Wald, in dem Laubbäume, Nadelbäume und Sträucher sich selbst aussamen, der Boden durchzogen vom Myzel der Pilze und von unzähligen Lebewesen belebt. Ein komplexes Ökosystem. Je vielfältiger, desto besser wird es mit dem Klimawandel fertig, erklärt Fähser.

Wenig Eingriffe, hohe Erträge

Das Lübecker Modell basiert auf dem Minimum-Prinzip: in die natürlichen Vorgänge so wenig wie möglich eingreifen. Es gibt keinen Kahlschlag, keine Monokultur, kein Gift, keinen Dünger, nur einheimische Bäume, die sich von selbst vermehren. Wo andere auf einer Fläche alle fünf bis zehn Jahre Bäume fällen, geschieht das in Lübeck nur dreimal in einem Jahrhundert. Große, alte Bäume liefern besonders wertvolles Holz – und sind wichtige CO2-Speicher. Eine Buche erreicht nach Untersuchungen Fähsers mit 200, die Eiche mit 400 Jahren ihr größtes Wachstum und damit ihre höchste Speicherkapazität.

"38 Minuten für den Stuttgarter Wald" mit Lutz Fähser, gedreht im Lübecker Wald. Video: Bürgerinitiative Zukunft Stuttgarter Wald

Der Umweltausschuss des Stuttgarter Gemeinderats war interessiert und lud Fähser ein. Der schlug vor, einen Waldbeirat zu gründen, wie es ihn in Niedersachsen auf Landesebene schon seit 2013 gibt. Das sehenswerte Video "38 Minuten für den Stuttgarter Wald", das Noetzel mit Fähser im Lübecker Wald gedreht hat, führt die Vorzüge des Lübecker Modells vor Augen.

Ein neuer Blick auf den Wald hat seit einigen Jahren Konjunktur: Mit seinem Bestseller "Das geheime Leben der Bäume" hat der Förster und Autor Peter Wohlleben viel Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Unwissenschaftlich, wenden Kritiker ein, sei darin die Vermenschlichung der Bäume. Die These, dass sie über das Wurzelwerk und das Pilzmyzel kommunizieren, sei nicht bewiesen. Fähser, der in Freiburg im Fach forstliche Betriebswirtschaft promoviert hat, argumentiert anders: Mit dem Lübecker Modell lassen sich höhere Erträge erzielen.

Stuttgart: 80 Prozent der Ziele erreicht

Seit vergangenem November ist der Stuttgarter Stadtwald nach den Richtlinien des Naturland-Verbands zertifiziert, die wiederum auf dem Lübecker Modell beruhen. Es war 1994 das erste Zertifikat für eine naturnahe Waldbewirtschaftung, so Fähser, und es ist auch das strengste. Zwar hatte sich nach der UN-Konferenz von Rio de Janeiro 1992 bereits die internationale Organisation Forest Stewardship Council (FSC) gegründet. Der FSC entwickelte bald darauf ein eigenes Zertifikat für nachhaltige Forstwirtschaft, das Fähser allerdings als Kompromiss zwischen ökologischen Aspekten und den Interessen der Holzwirtschaft bezeichnet.

Noetzel ist zufrieden: 80 Prozent seiner Ziele seien erreicht. Allerdings weicht die Stuttgarter Strategie in einem Punkt deutlich vom Lübecker Modell ab, wonach "ein zunehmender Anteil an Lichtwald lichtliebenden Pflanzen und Tieren Lebensraum bieten" soll. Fähser hält dagegen: Ein Buchenmischwald sollte im Gegenteil dichter und dunkler sein. Die Jungbäume beziehen Nährstoffe über die Wurzeln der Altbäume. Wenn zu viel Licht auf den Waldboden fällt, trocknet er aus und die Buchen leiden. Sie sind von Klimawandel und Trockenheit ebenfalls betroffen. Grund zur Sorge? "Bei uns stirbt keine Buche", konstatiert Fähser.

Das Land wirtschaftet zum Nachteil seiner Wälder

Ein für Noetzel persönlich noch gravierenderer Wermutstropfen: Der Wald gegenüber seinem Haus gehört gar nicht der Stadt, sondern wie der gesamte Rot- und Schwarzwildpark und der daran anschließende Schönbuch dem Land Baden-Württemberg. Zuständig ist Forst BW, eine Anstalt öffentlichen Rechts, die zwar nach eigenen Angaben den Staatswald "ökologisch, sozial und nachhaltig" bewirtschaftet, aber auch schwarze Zahlen schreiben soll. Die sind dem für Land- und Forstwirtschaft zuständigen Minister Peter Hauk (CDU) besonders wichtig. Und die schreibt Forst BW momentan nicht.

In den letzten beiden Jahren hat der Forstbetrieb im Land jeweils um die 60 Millionen Euro Defizit ausgewiesen. Um dies auszugleichen, wird möglichst viel Holz gefällt und verkauft. Die Baumfällarbeiten werden europaweit ausgeschrieben. Den Zuschlag erhält der günstigste Anbieter: häufig Unternehmen aus Osteuropa, die mit riesigen Erntemaschinen, Harvester genannt, den Wald durchpflügen und ein Schlachtfeld hinterlassen.

Das ist nicht nur ein Ärgernis beim Sonntagsspaziergang, sondern ein langfristiges Problem. Der Waldboden wird durch die Harvester irreversibel geschädigt. Denn Waldboden ist mehr als Erde. Er ist durchzogen von feinen Kapillaren, die Wasser speichern und Sauerstoff in den Boden bringen, Lebensgrundlage für Regenwürmer, Pilze und unzählige Mikroorganismen. In Zeiten des Klimawandels spielen Wälder als Kohlenstoffsenken, also natürliche CO2-Reservoirs, eine unverzichtbare Rolle. Und zwar nicht nur die Bäume: "Die Böden sind sogar noch wichtiger", betont Fähser.

Vision im Schurwald: Wald als Hochwasserschutz

Widerstand gegen diese Art der Bewirtschaftung regt sich auch woanders: Im Schurwald östlich von Stuttgart hat sich im vergangenen Jahr eine Initiative gegründet. Michael Hoffmann, von Beruf Meteorologe, hat beobachtet, wie sich in den tiefen Spuren der Erntemaschinen das Wasser sammelt. Der Waldboden trocknet aus, in den abschüssigen Furchen stürzt bei Starkregen das Wasser zu Tal. Wie am 3. Juni 2024, als der Ort Rudersberg beinahe weggespült wurde (Kontext berichtete). Die Bürgerinitiative Schutzwald Schurwald hat eine andere Vision: Der Schurwald soll als Wasserspeicher dienen, der solche Ereignisse verhindert.

Aber brauchen wir nicht das Holz? Architekten wollen mittlerweile am liebsten nur noch mit Holz bauen, aus Klimaschutzgründen. "Deutschland hat eigentlich keine Holznot", erklärt Lutz Fähser. "Wir exportieren 120 Millionen Kubikmeter Holz pro Jahr und importieren ebenso viel." Ein Großteil des Holzeinschlags dient zunehmend als Brennholz. Angeblich klimaneutral, da der Baum in seiner Wachstumsphase so viel CO2 binde, wie das Holz später wieder freisetzt.

Ein Märchen. Wegen seiner geringeren Energieeffizienz setzt Holz beim Verbrennen mehr CO2 frei als Steinkohle. Und bis der nachwachsende Baum dieselbe Menge bindet, vergehen viele Jahrzehnte.


Buchtipp: Hans Dieter Knapp, Siegfried Klaus, Lutz Fähser (Hrsg.): Der Holzweg – Wald im Widerstreit der Interessen. Oekom-Verlag, München 2021.

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4 Kommentare verfügbar

  • Robert Bauer
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Danke für den im wesentlichen guten Artikel. Es ist am Ende eine ziemlich gevagte Behauptung, "Ein Großteil des Holzeinschlags dient zunehmend als Brennholz". Zumindest gehört "Großteil" und "zunehmend " gründlich recherchiert. Auch der Satz "Wegen seiner geringeren Energieeffizienz setzt Holz beim…
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