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Comics über Flucht und Migration nach Europa

"Gott sind wir ziemlich egal"

Comics über Flucht und Migration nach Europa: "Gott sind wir ziemlich egal"
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Welche Ängste, Träume und Wünsche haben die Menschen, die sich aus Afrika oder Asien nach Europa aufmachen? Mit den Schicksalen von Geflüchteten befassen sich mittlerweile erstaunlich viele Comics, die erzählerischen Umsetzungen sind dabei so vielgestaltig wie die graphischen.

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Träume und Realität prallen schon in den ersten Bildern aufeinander. Mehrere afghanische Jungs, darunter Adil und sein älterer Cousin Shafi, spielen Kricket in einem scheinbar vollbesetzten Stadion. Nächste Seite, Schnitt, tatsächlich spielen die Jungs in einer Ruinenlandschaft in der südostafghanischen Provinz Khost, im Sommer 2014. Und als der Ball auf den Schläger prallt, wird das Geräusch übertönt vom Knall einer Explosion, ein Selbstmordattentat in nächster Nähe. Ein Ort zum Leben ist das nicht. Dann stirbt sein Vater, die Mutter heiratet seinen Onkel Kunzar, einen religiösen Fanatiker, der Adil auf eine Koranschule schickt.

Dort unterrichten Taliban, die Adil zum Kämpfer ausbilden wollen. Als dieser sich weigert, ein Selbstmordattentat auszuführen, muss er wegen der drohenden Rache Kunzars außer Landes fliehen. Gemeinsam mit Shafi, dessen Cousin Mohammed in England lebt, was auch das Ziel der beiden ist. Eine lebensgefährliche Odyssee beginnt, über Pakistan, den Iran, die Türkei, Griechenland, Serbien und Ungarn. Gefährt:innen sterben oder werden festgenommen, sie erleben brutale Grenzschützer und Polizei, werden ausgeraubt, getrennt, leiden Hunger. Am Ende, nach 9.603 Kilometern, stranden Adil und einige Monate später Shafi so wie viele andere an der Kanalküste Nordfrankreichs, im riesigen Camp des Dschungels von Calais. "9.603 Kilometer" heißt denn auch der Comic der beiden Franzosen Stéphane Marchetti und Cyrille Pomès, ganz frisch auf deutsch im Ludwigsburger Cross-Cult-Verlag erschienen.

Marchetti ist eigentlich Filmemacher, 2018 kam sein Dokumentarfilm "Die verlorenen Kinder von Calais" heraus, der sich mit auf sich allein gestellten Minderjährigen in dem Lager befasst. 2016, als er monatelang in Calais recherchierte und Interviews führte, sei die Idee zu dem Comicprojekt entstanden. "In den Figuren Adil und Shafi steckt ein wenig von all den Kindern, denen ich begegnet bin", erzählt Marchetti. "Durch das Medium Comic konnte ich eine fest in der Realität verankerte Erzählung aufbauen, aber dadurch eröffnete sich mir auch die Möglichkeit, andere narrative Dimensionen zu erkunden, um Romanhaftes, intime Augenblicke zwischen den Kindern oder Traumartiges einzubringen."

Dass das tatsächlich schlüssig und packend gelingen konnte, liegt auch an Marchettis zeichnendem Partner Cyrille Pomès. Der zeigte sein Können, zeitgenössische Stoffe umzusetzen, schon eindrucksvoll in dem dokumentarischen Comic "Der arabische Frühling" (2013 auf deutsch bei Carlsen erschienen), in dem er ein Szenario von Jean-Pierre Filius umsetzte. In "9.603 Kilometer" zeigt Pomès sich mit seinem semirealistischen Zeichenstil nun erneut als Virtuose visueller Dynamik, unterschiedlichster Perspektiven und stimmungsvoller Farbgebung, und manchmal sind Bildaufbau und Erzählweise so dramatisch, dass man sich fast in einem Action-Comic wähnt. Doch leichte Unterhaltung wird es nie, dafür ist die Handlung zu bedrückend realistisch. Als die beiden Cousins in einer Szene am Strand von Calais stehen, Shafi in Hoffnungen auf ein bald besseres Leben und vielleicht die Hilfe Gottes schwelgt, sagt Adil schon desillusioniert: "Gott sind wir ziemlich egal, seit wir gegangen sind." Und nachdem ein Feuer ihr weniges Hab und Gut vernichtet hat, ist auch Shafi verzweifelt und klagt: "Die ganze Welt scheißt auf uns."

Marchetti arbeitet momentan an einem Thriller, der sich ebenfalls mit Migration nach Europa beschäftigen und 2024 in die Kinos kommen soll. Es wird sein Spielfilmdebüt, nachdem er schon seit 15 Jahren Dokumentationen macht, und das scheint fast symptomatisch: Erstaunlich selten gelangen Schicksale der in den letzten Jahrzehnten nach Europa Flüchtenden in den Fokus fiktionaler Drehbücher. Im Comic-Bereich findet sich da schon deutlich mehr.

"Willkommen in der Vierten Welt"

Eines der absoluten Ausnahmewerke ist dabei nach wie vor der bereits 2011 in Finnland und 2014 in Deutschland erschienene Band "Unsichtbare Hände" von Ville Tietäväinen. Der finnische Graphikdesigner und Illustrator erzählt darin die Odyssee des arbeitslosen Schneiders und Familienvaters Rashid aus Marokko, der wie viele seiner Landsleute davon träumt, in Europa Geld für ein besseres Leben zu verdienen. Mit Hilfe von Schleppern versucht er, in einem überfüllten Schlauchboot über die Straße von Gibraltar Spanien zu erreichen, überlebt trotz Havarie und erreicht sein Ziel: die Treibhäuser des andalusischen Almeria, in denen die "papierlosen" Illegalen als Billigstarbeitskräfte gefragt sind. Ohne sie könnten hier nicht Obst und Gemüse zu so günstigen Preisen für die Supermärkte Europas produziert werden.

Rashids Träume bekommen früh einen Dämpfer. "Willkommen in der vierten Welt", sagt ein Polizist den Neuankömmlingen, denn die Arbeits- und Lebensbedingungen spotten jeder Beschreibung: Die Illegalen hausen in improvisierten Slums und arbeiten für Dumping-Löhne ungeschützt unter extrem gesundheitsschädlichen Bedingungen – gewaltige Mengen Pestizide garantieren neben den geringen Arbeitskosten, dass aus dieser Region auch im Winter riesige Mengen von Paprika, Tomaten oder Gurken exportiert werden können. Viele der Arbeiter werden durch die Gifte krank, zerbrechen körperlich und seelisch.

Fünf Jahre arbeitete Tietäväinen an dem rund 200-seitigen Epos, zusammen mit dem finnischen Sozialanthropologen und Islam-Experten Marko Juntunen sowohl in marokkanischen Armenvierteln als auch in spanischen Plantagen. Ein Schock sei für beide die Beobachtung gewesen, wie die lokale Polizei, Grenzpatrouillen, Menschenhändler und Arbeitgeber in enger Zusammenarbeit von der Billiglohnindustrie profitieren. Lakonisch und präzise schildert Tietäväinen diese Mechanismen der Erniedrigung und Ausbeutung. Wie er eine Fülle von Informationen in die Geschichte packt, ohne sie zu überladen oder ihren Fluss zu hemmen, ist bemerkenswert. Dazu gelingen ihm stets überzeugende Charakterzeichnungen, vor allem vom Protagonisten Rashid, der trotz zunehmenden körperlichen Verfalls seine Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgeben will.

Woher kommen diese Hoffnungen? Auch das beleuchtet der Comic. Wenn der naive Rashid noch vor seiner illegalen Reise nach Europa darüber sinniert, dass die Schneider im Marokko ebenso wie viele Bauern ihre Existenzgrundlage verlieren werden, denn "alles, was aus Europa kommt, ist billiger", wird ein wichtiger Zusammenhang deutlich: "Ein Aspekt, den ich in ’Unsichtbare Hände’ aufzeige, ist, welche verheerende Wirkung die EU-Wirtschaftspolitik auf die afrikanischen Länder hat und wie sie die Menschen zum Auswandern zwingt", sagt Tietäväinen. Geregelt ist diese Politik im Wirtschaftspartnerschaftsabkommen EPA (Kontext berichtete).

Die Migrationsbewegungen nicht mehr ignorieren konnten die europäischen Staaten ab 2015, als im Spätsommer von einer Flüchtlingskrise die Rede war. Ein Panorama nicht nur dieses Jahres, sondern auch der Situation an unterschiedlichsten Punkten der EU-Außengrenzen zeigt "Der Riss" der beiden spanischen Journalisten Carlos Spottorno und Guillermo Abril. Es ist kein fiktionales Werk, sondern ein dokumentarisches, und eigentlich eine monumentale Foto-Reportage, die durch farbliche Verfremdung aber die Anmutung einer Comic-Erzählung bekommt. Spottorno und Abril beginnen in der spanischen Exklave Melilla an der Nordküste Afrikas, die sich mit einem meterhohen Zaun gegen Migranten abschotten will. Sie begleiten Küstenwachschiffe auf dem Mittelmeer, reisen zu den Stationen der "Balkanroute" bis zur finnisch-russischen Grenze und immer wieder begegnen sie ähnlichen Zäunen und Flüchtenden – selbst an einem der nordöstlichsten Zipfel der EU, tausende Kilometer von Melilla entfernt, treffen sie eine afghanische Familie und zwei Kameruner. Ein Exkurs führt in die Ukraine, die schon 2015 beginnt, sich mit westlicher Hilfe gegen einen größeren Konflikt mit Russland zu wappnen. Eine Episode, die man heute wohl ganz anders liest als 2017, als "Der Riss" auf deutsch im Berliner Avant-Verlag erschien.

Nach 2015 entstanden viele weitere Projekte, die sich dem Thema Flucht in Comicform widmeten. Einige Beispiele: "Der kälteste Sommer" (hier kostenlos downloadbar), das vom griechischen Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde, umfasst drei Geschichten, die auf den autobiografischen Erzählungen von Geflüchteten beruhen, die die Autor:innen in Athen und Berlin getroffen haben.

Das Bewusstsein für die Ängste, Träume und Wünsche von Menschen, die in einem fremden Land ankommen, ist Thema des Projekts "Alphabet des Ankommens" des deutschen Comicvereins. Wobei es nicht nur um Geflüchtete geht, sondern ganz allgemein um Migration. Unter der Leitung der Journalistin Lilian Pithan und des Comiczeichners Sascha Hommer stellten im März 2017 Journalist:innen und Zeichner:innen aus zehn Ländern in einem gemeinsamen Workshop zwölf Comic-Reportagen über den Neuanfang in einem fremden Land zusammen. Die nur wenige Seiten umfassenden, sehr unterschiedlichen Geschichten können alle online auf www.alphabetdesankommens.de angeschaut werden.

Es gibt nicht nur Realismus und Bedrückendes, sondern auch Poesie. Und die bietet das wunderschöne Bändchen "Bei mir, bei dir" der syrischen Autorin Anisa Alrefaei Roomieh und der Schweizer Illustratorin Maeva Rubli (2021 erschienen bei Edition Moderne). Wobei es auch hier um ein reales und teils sehr bedrückendes Schicksal geht. Roomieh lässt mithilfe von Rubli ihr Leben, das sie in Syrien zurückgelassen hat, Revue passieren, schmerzhafte Erinnerungen an Gewalt und glückliche wie die Geburt ihrer Tochter Marya. Der Text ist ein Gedicht der Mutter für ihre Tochter, die jetzt in der Schweiz in Freiheit aufwächst, und Rublis Bilder dazu sind graphische Gedichte. Stimmungsvolle, zarteste Zeichnungen mit Bleistift und verlaufenden Aquarellfarben, mehr Kunst als Comic und so meisterhaft den Text begleitend, dass sich immer wieder ein Kloß im Hals einstellt. Eine Ode an die Schönheit des Lebens – und an die Hoffnung.


Cyrille Pomès, Stéphane Marchetti: 9.603 Kilometer. Zwei Kinder auf der Flucht, Cross Cult, 2023, 128 Seiten, 30 Euro.

Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände, Avant-Verlag, 2014, 216 Seiten, 34,95 Euro.

Guillermo Abril, Carlos Spottorno: Der Riss, Avant-Verlag, 2017, 184 Seiten, 32 Euro.

Maeva Rubli, Anisa Alrefaei Roomieh: Bei mir, bei dir, Edition Moderne, 2021, 232 Seiten, 19 Euro.

 

 

 


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