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Das nackte Grauen

Angst und Schnecken

Das nackte Grauen: Angst und Schnecken
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Sie feiern stundenlange Sexorgien, haben keinen Respekt vor fremdem Eigentum und sind jetzt auch noch für Stromausfälle verantwortlich: Die allseits verhassten Nacktschnecken bringen unaufhörlich Störung in wohlgeregelte Menschenleben. Eine Liebeserklärung.

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Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher: Würde eine Zeitung raten, Hunde oder Katzen, Goldfische, Meerschweinchen oder Zwerghamster, Braunbrustigel oder irgendein anderes gemeinhin als putzig, flauschig, meinetwegen auch nützlich anerkanntes Tier mit der Gartenschere durchzuschneiden, würde das beim werten Publikum vermutlich nicht so gut ankommen. Bei der Nacktschnecke – und wahrscheinlich nur bei der Nacktschnecke – erlaubt sich die "Augsburger Allgemeine" hingegen die Überschrift: "Zerschneiden ist das humanste".

Da im Jahre 2021 keine seriöse Publikation mehr ohne mindestens eine Gartenkolumne auskommt, ist die Medienrepublik angesichts des nacktschneckenreichen Sommers mit einer Überfülle von – inhaltlich nicht allzu weit auseinanderliegenden – Ratschlägen gesegnet, wie sich die konsensual als Plage definierten Lebewesen am effektivsten eliminieren lassen. Im "Spiegel" etwa will sich eine Hobbygärtnerin "Auge um Auge" für angeknabberte Glockenblumen revanchieren und wählt dafür die Methode, mit der schon ihre Oma Erfolg hatte. Sie "involviert Handschuhe, ein altes Marmeladenglas mit Deckel und Salzlösung".

Auch die "Main-Post" informiert über dieses mit grässlichen Qualen verbundene Vorgehen: "Das Salz frisst sich in die Haut der Schnecken und löst sie auf." Und gibt das einen Rüffel wegen gesteigerter Grausamkeit? Im Gegenteil: "Dann ist Schluss mit nackig und knackig", freut sich die Zeitung, "denn schließlich sind Schnecken eine Plage, die ins Geld geht." Den Ausgerotteten anzukreiden, dass ihre Vernichtung ein Kostenfaktor ist, könnte bei anderen Spezies als problematisch bewertet werden. Nicht aber bei der Nacktschnecke.

Warum nur hat Gott die Nacktschnecke erschaffen?

Sie sind schleimig und eklig und wer einmal in eine reintritt, vergisst das schmierige Glibbergefühl an der Fußsohle ein Leben lang nicht mehr. Wäre die Nacktschnecke aber einfach nur ekelhaft, könnte sie womöglich mit Gnade rechnen.

Aber sie entschied sich, fremdes Eigentum zu missachten, in die kleinen Refugien aufrechter Bürgerinnen und Bürger einzudringen und sich, Schleimspuren hinterlassend, an den Früchten harter Arbeit zu vergreifen. Wo sie ratzeputz alles anfressen, befindet eine Autorin in der "Augsburger Allgemeinen", kann dieser Anblick "selbst das tierfreundlichste, friedliebenste Gärtnergemüt zum Mörder werden lassen".

Aber nicht nur begnügen sich die Schäd- und Widerlinge, den Traum von der schmackhaften Zucchini aus Eigenanbau zu unterminieren. Im bayrischen Eichstätt kam es kürzlich zu zwei Stromausfällen, Ursache: "Kurzschluss wegen Schnecken". Wie der Leiter der Stadtwerke gegenüber "Ingolstadt today" verrät, seien sie – ist das schon Landfriedensbruch? – in den Verteilerkasten gekrochen und hätten das "wohl nicht überlebt". Mitleid? Fehlanzeige. Eher dürfte es, bilanziert das Online-Angebot des "Donaukuriers", so manchen "Gartenbesitzer mit Genugtuung und Schadenfreude erfüllen, klagen viele von ihnen doch von regelrechten 'schleimigen Schlachtfeldern', in die sich ihre grünen Oasen in jüngster Zeit verwandelt hätten".

Wo mühselig angepflanzter Salat Löcher bekommt, scheint jeder Vergeltungsschlag legitim. Denn der homme de la nature et de la vérité hält bei seiner angeborenen Dummheit die Rache ganz einfach für Gerechtigkeit.

Einen Mitarbeiter des "Bayerischen Rundfunks" bewegt die schiere Existenz der wirbellosen Kriechtiere gar, die unergründlichen Wege des Herrn zu hinterfragen: "Manchmal versteht man den Lieben Gott nicht: zum Beispiel, warum er Nacktschnecken erschaffen hat." Sogleich folgt ein recht kläglich scheiternder Humorversuch: "Aber dass er sogar eine jede ausstattet mit männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen, darüber sollte man mal mit ihm diskutieren."

Sie ist das Yin im Yang

Wo bereits ihr ungeniertes Gemüseanknabbern in gut gepflegten Gärten für blankes Entsetzen sorgt, wird die Nacktschnecke durch ihren Fortpflanzungsakt endgültig zur Nemesis der bürgerlichen Gesellschaft. In einem mehrstündigen Paarungsritual – da sie keine Häuser haben, zu allem Überdruss auch noch öffentlich zur Schau getragen! – verschlingen sich die Zwitter ineinander und versuchen, ihre tatsächlich so genannten Liebespfeile (die, weil sie nicht abgeschossen werden, eher Liebeslanzen sind) in die jeweils andere Geschlechtsöffnung einzuführen. Als wären die glitschigen Geschöpfe durch den von Menschen zum Volksport erhobenen Massenmord an ihnen noch nicht genug abgestraft, kann es dabei, wie Wikipedia informiert, vorkommen, "dass der Liebespfeil entweder nicht richtig eingestochen wird und einfach funktionslos bleibt oder dass es zu Verletzungen kommt, bei denen eine Schnecke, die vom Liebespfeil im Kopfbereich getroffen wird, einen Fühler nicht mehr ausstrecken kann."

Eigentlich hat die Nacktschnecke aber kein Mitleid verdient. Sondern Respekt. Sie symbolisiert das harte Stück Realität, das trotz aller Abschottungsversuche bis ins letzte Refugium eindringt. "Die Gärtnerin mag sich in schwachen Momenten wie eine Göttin fühlen, die sich ein privates Eden schafft, aus dem sie niemand vertreiben kann", erfährt das Publikum des "Zeit Magazin" in der Serie "Auf dem Boden der Tatsachen". Die Nacktschnecke aber macht den Menschen wieder zum Menschen. Als gestaltgewordene Krise komplementiert sie im harmonischen Idyll sich gegenseitig konstituierende Gegensätze, sie ist das Yin im Yang und ruft uns in Erinnerung, dass Lust und Leid, Freude und Schmerz, Gut und Schlecht erst durch den Kontrast an Wert gewinnen, einander benötigen, um zur Geltung zu kommen. Und dafür sollte dieses verhasste Wesen auch ein bisschen geliebt werden.


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