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CDU und Provinz

Auf Geisterfahrt

CDU und Provinz: Auf Geisterfahrt
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Seit Jahrzehnten stemmt sich die Südwest-CDU gegen gesellschaftlichen Fortschritt, gegen den Doppelpass und mehr Gleichberechtigung, gegen die Homo-Ehe und längeres gemeinsames Lernen, gegen mehr direkte Demokratie, mehr Bio, eine humane Flüchtlingspolitik und weniger Autos in Ballungsgebieten. Die Bremsspuren sind so beachtlich wie folgenreich.

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Stefan Kaufmann, der MdB und Stuttgarter CDU-Kreisvorsitzende, ist keineswegs Teil der Lösung, sondern des Problems. Vor allem in der Mobilitätspolitik mit seinem chronischen Lamento über Fahrverbote und Verkehrsbeschränkungen im Talkessel, über Busspuren und Tempo 40. Nach dem Wahldebakel vom 14. März legt Kaufmann den Finger allerdings doch mal in die richtige Wunde, wenn er, gefragt nach dem Exotenstatus städtischer Landtagsabgeordneter seiner Partei, zum leicht fasslichen Titanic-Vergleich greift. "Wir haben zum dritten Mal die Eisberge geschrammt, aber die Kapelle spielt weiter, als sei nichts geschehen, und auf der Brücke trinkt man grünen Tee", sagt der 51-Jährige, der seit 2015 mit einem Mann verheiratet ist.

Der nächste Satz dürfte allerdings kaum zu belegen sein: "Ich habe schon vor zehn Jahren gewarnt, dass wir mit unseren Themen und unserer Aufstellung in den großen Städten untergehen werden." Und dann verspricht Kaufmann noch, dass die CDU in der Landeshauptstadt den Kopf nicht in den Sand stecken wird. Dabei wäre doch Herausziehen angesagt, endlich Anknüpfen an Manfred Rommels liberalen schwäbischen Weltgeist, sich endlich der Realität im Talkessel zu stellen, wo etwa der Wegfall von 16 Parkplätzen an der Markthalle längst überfällig ist und alles andere als "grüne Ideologie“. Und nicht nur dort.

Für die 15 größten Städte in Baden-Württemberg mit insgesamt mehr als zweieinhalb Millionen EinwohnerInnen sitzen im neuen Landtag gerade noch drei Schwarze, dabei ist die neue Fraktion mit 42 Abgeordneten genauso stark wie die alte. Im Vergleich zu 2016 sind aber allein 20 der prestigeträchtigen Direktmandate für die jeweils Stimmenstärksten in den einzelnen Wahlkreisen an die Grünen abgewandert.

Als CDU-Einsprengsel auf der Landkarte bleiben übrig die Ostalb und der Odenwald, Main-Tauber, der Kraichgau, der nordöstliche Schwarzwald, Balingen, die Gegend um Tuttlingen und Donaueschingen sowie Geislingen. Allein über die Zweitauszählung bekommt sie in manchen Städten noch ein Bein auf den Boden: zum Beispiel in Esslingen mit Andreas Deuschle (23,8 Prozent), und als letzter Ausweis moderner Urbanität, im Wahlkreis Stuttgart III. Dort schaffte der stadtbekannte Rechtsanwalt Reinhard Löffler gerade noch den Einzug in den Landtag über die Zweitauszählung, mit knapp 13.000 von über 53.000 gültigen Stimmen.

Anfang der Neunziger, als unter Erwin Teufel erstmals die absolute Mehrheit verloren ging und, als Premiere in der bundesrepublikanischen Geschichte, Grüne zu Sondierungsgesprächen eingeladen wurden, ging das Direktmandat an die spätere Kultusministerin Marianne Schultz-Hector: mit 24.500 Stimmen. Vier Jahre zuvor war die CDU sogar so stark in Feuerbach, Weilimdorf, Zuffenhausen und Stammheim, dass sogar zwei ihrer Abgeordneten den Wahlkreis Stuttgart III im Landtag vertraten.

Rückwärts immer, vorwärts nimmer

Zügig, wenn auch unter staunender Beobachtung bundesweit, war 1992 aussondiert und stattdessen für die nächsten vier Jahre eine Große Koalition gebildet. Schon in dieser Zeit hätten sich die Traditionalisten eine Modernitätsspritze verpassen können. Lieber bekämpften sie aber mannhaft selbst kleinste Geländegewinne in Sachen Gleichstellung. Dieser Geist eines ziemlich einfallslosen Konservativismus blieb und wirkte über den Machtverlust von 2011 hinaus nach, weil gesellschaftliche Modernisierung immer als modische oder ideologiegetriebene Marotte der anderen missverstanden wurde.

Natürlich wird so die langjährige Staatssekretärin und frauenpolitische Sprecherin Friedlinde Gurr-Hirsch 2015 nicht erste Landtagspräsidentin ("Ich hätte es gerne gemacht und hätte ein Gefühl des Aufbruchs verspürt, wenn ich es geworden wäre“), sondern Wilfried Klenk, damals schwarzer Hinterbänkler. Und natürlich hatte sich Landeschef Thomas Strobl, trotz seiner Kampagne "Frauen im Fokus“, mitnichten für die erfahrene Parteifreundin stark gemacht, sondern nur im Nachhinein bekannt: "Deine Wahl wäre ein starkes Signal gewesen."

Noch hartnäckigere Geisterfahrer saßen und sitzen immer noch ausgerechnet in der Jungen Union. Als der eben erst durch einträgliche Maskengeschäfte unrühmlich bekannt gewordene MdB Nikolas Löbel noch JU-Landesvorsitzender war und der möglicherweise starke Mann von morgen Manuel Hagel sein Vize, da wollte der Nachwuchs der Genderforschung per Wahlprogramm den Geldhahn zudrehen. Ihr Argument: Genderforschung diene "nur einer Ideologie – schließlich leisten wir uns ja auch keine Lehrstühle für Astrologie und Alchimie". Wer Ewiggestrige sucht, wird bis heute in der JU rasch fündig. Phillip Bürkle beispielsweise, gegenwärtig Landeschef, hat sich als Kämpfer gegen die Frauenquote bei der CDU einen Namen gemacht, mit Gründen direkt aus den Sechzigern: "Wer sich einen Posten in der Partei verdienen will, der soll dies über Engagement, Leistung und Einsatz machen.“

Das größte Problem schwarzer Landeier ist aber, dass es mittlerweile so viele grüne gibt. Und zwar nicht erst seitdem auf den neuen Wahlkreiskarten weite Teile Baden-Württembergs in sattes Grün getaucht sind, sondern seit der ersten Stunde. Mit Dora Flinner schickte der Landesverband 1987 die erste Bäuerin überhaupt in den Deutschen Bundestag, die bekannt geworden war im Widerstand gegen die Daimler-Benz-Teststrecke in Boxberg. Waltraud Ulshöfer, die Frau von Alt-OB Fritz Kuhn, entwickelte in den Achtziger Jahren aus der Opposition heraus eine eigenständige Altersversorgung für Landfrauen. Der erste grüne Bürgermeister bundesweit – Elmar Braun in Maselheim – kam nicht nur vom Land, sondern sitzt noch immer in seinem oberschwäbischen Rathaus.

So oder so ein Risiko

Manuel Herder, der erfolgreiche Verleger und Freiburger CDU-Kandidat, stellte für eine andere überaus ländlich geprägte Region im Wahlkampf diese rhetorische Frage: "Wie wollen wir Baden-Württemberg zurückgewinnen, wenn wir nicht diesen Wahlkreis zurückgewinnen?“ Gemeint war Freiburg I, wozu die Altstadt ebenso gehört wie der Feldberg, das Glottertal und Hinterzarten. Tatsächlich gewann im ehemaligen Wahlkreis von Hans Filbinger die Grüne Daniela Evers aus dem Stand mit gut 40 Prozent. Auch dank eines weiteren großen Missverständnisses, das die Schwarzen mit sich herumschleppen wie einen Mühlstein: Bio-, Öko- und regionale Landwirtschaft sind eben genausowenig eine Zeitgeisterscheinung wie die Idee, die Flächen für den motorisierten Individualverkehr im Stuttgarter Talkessel dem Klima und der Atemluft zuliebe zu verknappen.

Beim Thema Solarpflicht auf allen Neubauten, von den Grünen gewollt, von der CDU hartnäckig verweigert, hat Peter Hauk, staatlich geprüfter Förster aus dem Odenwald, gerade den Vogel abgeschossen. Plötzlich, das Schreckensszenario der Oppositionsbänke vor Augen, lenkt der amtierende Minister für den Ländlichen Raum und Bezirksvorsitzende der CDU Nordbaden ein. Jetzt sitzt er zwischen zwei Stühlen, denn das eine Lager bei seinen Parteifreunden wirft ihm vor, nicht schon früher gesprungen zu sein, das andere meint, er habe willfährig nachgegeben, um sein Ministeramt zu behalten.

Völlig offen ist schon wieder, wohin ihre Geisterfahrt die einstige Baden-Württemberg-Partei diesmal führt. "Opposition können wir nicht“, lautete eine der Einschätzungen aus der digitalen Kreisvorsitzenden-Konferenz vom Montagabend. Im Netz fliegen die Fetzen, denn die Erneuerung in der Regierung hat auch nicht richtig funktioniert. Immerhin gibt es – so oder so – eine zweite große Chance: Entweder opponierend und sich, orientiert am C, den Herausforderungen ehrlich stellend. Oder noch einmal am Kabinettstisch, endlich anerkennend, dass der Globus von Baden-Württemberg sich weiter gedreht hat. Werden die nächsten fünf Jahre abermals versemmelt, steht die SPD mit Erläuterungen sicher gerne zur Seite. Denn die Roten, die nicht sehen wollten, womit die Grünen ihnen zu Recht das Wasser abgraben, dachten vor einem Vierteljahrhundert ebenfalls fälschlicherweise: Mit nur noch 25 Prozent muss die Talsohle aber doch endgültig erreicht sein.


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1 Kommentar verfügbar

  • chr/christiane
    am 27.03.2021
    Antworten
    Rückwärts immer--vorwärts nimmer.

    Noch vor 2 Tagen gab es zu Hause eine Diskussion, warum die Bahnen so leer sind und die Bahn sich so verschuldet hat.
    Mein Argument--gäbe es die Abteile und die zu öffnenden Fenster noch, könnte man auch in Corona-Zeiten sicher mit der Bahn fahren.
    Heute lese…
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