KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Planet der Gliederfüßer

Planet der Gliederfüßer
|

 Fotos: Joachim E. Röttgers 

|

Datum:

Unter dem Motto "Jedes Insekt zählt!" ruft der Nabu zur Zählung aller Sechsbeiner in Deutschland auf. Wie's geht? Einfach irgendwohin sitzen und gucken, was so vorbeikommt. Kontext hat es ausprobiert.

Zurück Weiter

Diverse Studien der vergangenen Jahre haben es bestätigt und tun das noch immer: Es gibt immer weniger Insekten. Nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit gehen die Insektenbestände zurück. Wegen all der Pestizide, die wir Menschen versprühen, all der Monokulturen in der Landwirtschaft, all der Häuser, die wir bauen und all des Betons, mit dem wir die Habitate der mehrfüßigen Zunft versiegeln, auf dass da keine Mücke mehr fliegt.

Dabei sind Insekten, so winzig sie sind, unersetzlich für das Gleichgewicht des Ökosystems unserer Welt. Und wie die Weiten der Meere, die der Mensch zugrunde richtet, noch bevor er sie richtig kennengelernt hat, sind auch die verschwindenden Insekten häufig nur wenig erforscht.

Vor allem deren noch vorhandene Vielfalt lässt sich nur schwer zuverlässig bestimmen. Deshalb ruft unter anderem der Nabu momentan jeden, der mag, zur Insekten-Inventur auf. "Citizen-Science-Projekte" nennt man solche Forschungsaktionen, die sich auf die Mithilfe von Laien stützen. Denn wenn Hinz, Kunz und auch Oma Erna von Kiel bis Konstanz zum Griffel greifen und aufschreiben, was sich im heimischen Garten tummelt, ergibt das zumindest einen etwas breiteren Überblick über die Insektenviel- oder -einfalt im Land, als wenn es nur vereinzelte ForscherInnen tun.

Gewinnerin 2018: die Ackerhummel

Zur Aktion im vergangenen Jahr wurden dem Nabu immerhin rund 7000 Zählergebnisse gemeldet – das meistgesichtete Tier war die Ackerhummel, dicht gefolgt vom kleinen Kohlweißling (ein Schmetterling) und der Wespe. Gezählt wird 2019 in Wald, Flur und Stadt. Der erste Zählzeitpunkt läuft seit dem 31. Mai und geht noch bis zum 9. Juni. Vom 2. bis zum 11. August wird dann ein zweites Mal gezählt.

Und das mit prominenter Unterstützung: Moderatorin Ruth Moschner ist dabei ("Ohne Biene keine Beere!"), Moderator Ralph Caspers ("Ohne Insekten würden wir ganz schön in der Scheiße stecken.") und der schillernde Shooting-Star der Insektenszene: Kriminalbiologe Mark Benecke – Besitzer mehrerer Riesenschaben, Experte für Insekten auf Leichen, bis vor ein paar Tagen EU-Kandidat der Partei, Veganer, Humanist, Tattoo-Fan.

Für das Nabu-Insektenzähl-Promo-Video steht Benecke vor einem Gebüsch, späht über seine Brille und sucht – alles, was sechs Beine hat: "Wir leben auf dem Planeten der Gliederfüßer", sagt er. "Und wenn man mal sehen will, wie die Welt wirklich aussieht, muss man sich die Krabbeltiere angucken." Menschen, Kühe, Giraffen seien da nur zeitweise Gäste, "die Gliedertiere, das ist die große Mehrheit." Und das sage und schreibe seit mindestens 400 Millionen Jahren.

Gemeldet werden die gesichteten Wusler über die Nabu-Website, dort finden sich auch diverse Hilfsmittel zur Bestimmung von Grüngestreiftem oder Hellbeflecktem mit Beschreibungen und Besonderheiten des jeweiligen Tiers. Und die können durchaus spannend sein: Wer weiß schon, dass die Blattlaus sofort geflügelte Nachkommen zeugt, sobald ein läusefressender Marienkäfer in der Nähe ist?

Suche mit Makro-Objektiv

Der Nabu empfiehlt zur Suche eine Lupe, Kontext ist mit Makro-Objektiv für scharfe Insektenfotos losgezogen – Insekten zählen im Selbstversuch, auf einem Gartengrundstück, bewaffnet mit Block, Stift und Zählvorlage des Naturschutzbundes.

Und da ist auch schon die erste Ameise. Und noch eine. Drei Ameisen. Extrem viele Ameisen. Okay, sehr viele Ameisen. Und da: eine Fliege. Irgendwas schwirrt vorbei, leider zu schnell. Ameise auf Grashalm. Ameise auf Ameise auf Rose. Ameise auf Stein. Ameise auf Brombeerstängel. Ameisen auf Stängel beim Blattläusemelken. Ganz schön viele Blattläuse. Ach du je, viel mehr Läuse als Ameisen.

Und guck mal da – ein grauer Käfer. Und da unter dem Blatt noch einer! Eine Hummel brummt majestätisch an der Kamera vorbei. Auf der Akelei sitzt noch eine – wobei: pelzig wie eine Biene, aber mit gestreiften Flügeln? Das da auf dem Zaun sieht aus wie ein Alien: rote Augen, eckige spitze Flügel, noch nie gesehen sowas.

Der Blumentopf, den der Nachbar falsch herum auf einen Zaunpfosten gesetzt hat, entpuppt sich als Wohnzimmer einer Springspinne. Kein Insekt, ja, aber auch nett. Eine Assel asselt über einen Stein. Im frisch umgegrabenen Beet windet sich eine speckige Rosenkäferlarve. Auf einer Brombeere hockt etwas Längliches, Schwarzes, mit gelben Streifen. Seine Fühler tasten die Luft ab. Eine Pfingstrosenknospe macht gerade das Liebesnest zweier Marienkäfer. Eine Biene kruschtelt geschäftig in einer Blüte. Und da – noch ein Käfer. Und dort! Und da!!

Alles so schön hübsch hier

Und plötzlich, wo sich die Augen gewöhnt haben an die kleinen Objekte, die sie suchen sollen, ist dieser Garten zu einem lebenden Organismus geworden, voll kleiner und kleinster Lebewesen. Spinnen, auf deren Beinhaaren, durchs Marko-Objektiv betrachtet, das Sonnenlicht reflektiert. Kleinstkäfer mit bunten Punkten auf den Panzern und Streifen an den Flügeln. Fühler in allen möglichen Formen – manche davon sehen aus wie winzige Kügelchen, die jemand wie die Perlen einer Kette aneinander gereiht hat. Scharfe Greifzangen unter kleinen Mündern, Beinchen, die wuseln und flüchten vor uns riesigen Menschen, die diese mini Geschöpfe oft genug klatschen, wenn sie sich mal in unsere Wohnräume verirren. Ein Tausenfüßler fußelt vorbei. Und noch einer! Wahnsinn, wie schnell die sind.

Nach zwei Stunden Beobachten haben wir vor lauter "Ahhhs" und "Ohhs" und "Kuck-mal-da!" kein einziges Insekt wirklich gezählt. Aber – um mit Insekten-Fan Mark Benecke zu sprechen: Wir haben bei unseren Beobachtungen tatsächlich ein winziges und liebenswertes Universum kennengelernt. Möglicherweise geht es ja bei dieser Nabu-Aktion in Wirklichkeit weniger ums Zählen. Sondern darum, das Herz für die kleinsten noch sichtbaren Lebewesen in unseren Gärten zu öffnen und ihre Schönheit zu entdecken.

Einen Tag später sitze ich in der S-Bahn und eine Frau stupst mich an. "Sie haben da einen Käfer", sagt sie mit zweifelndem Blick. Und tatsächlich: Ein schwarzer, glänzender Käfer, etwa einen Zentimeter groß, sitzt auf meiner Schulter. Ich lasse ihn vorsichtig in meine Hand krabbeln und setze ihn an der nächsten Haltestelle in die Freiheit. Wieder im Büro, höre ich unseren Fotografen rufen: "Und ausgerechnet jetzt habe ich kein Makro da!" Er zeigt auf den Boden, dort zappelt in Rückenlage eine Wanze. Hätten wir sie gestern übersehen? Für ein paar Bilder lassen wir dass Tier strampeln. Dann schieben wir die Wanze vorsichtig auf ein Stück Papier. Und lassen sie aus dem Fenster fliegen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!