Da erhalte ich einen unerwarteten Anstoß von einem autonom fahrenden Auto im "Shared Space" auf der Tübinger Straße. Die leise summenden Elektrofahrzeuge sind schon lange keine Seltenheit mehr und tummeln sich um die wenigen Fahrradfahrer. Auf der Fahrradstraße ist es kaum besser. Schweiß gebadet am Österreichischen Platz angekommen, fülle ich meine Trinkflasche am Brunnen auf und setze mich in der Nähe des Kiosks in eine Hängematte, um auf meine Freunde zu warten. Günther, der Kiosk-Besitzer, setzt sich zu mir. Sein weißer Bart blendet mich. Wie immer fängt Günther an zu erzählen:
"Weißt du, als ich so alt war wie du, da sah hier noch alles ganz anders aus. Anstelle der Strandbar war hier eine Tankstelle, thronend inmitten verstopfter und stinkender Straßen. Unten auf den dunklen Parkdecks, wo wir heute auf einem idyllischen Strand sitzen, fanden die besten Raves statt. Die Hochtöner der Tonkünstler waren das einzige, das den Lärm der Stadt übertönen konnte. Ich war damals noch ein junger Student. Meine Eltern hatten große Erwartungen an mich. Das einzige, was größer war als die Erwartungen, war mein Taschengeld. Und so schlug ich mir hier am Österreichischen Platz die Nächte um die Ohren. Vor den Raves gingen wir bei Toni an der Tanke vorbei. Nach dem Bezahlen fuhr er sich immer durch seinen langen weißen Bart und ermahnte uns mit einem Augenzwinkern, anständig zu bleiben. So schlug ich mir Nacht um Nacht um die Ohren und vernachlässigte zunehmend mein Studium. Die Begeisterung meiner Eltern über meinen Lebensstil war ungefähr so groß wie die meiner Professoren über meine Leistungen. Kurzum: 5,0. Exmatrikulation. Als meine Eltern abermals Drogen bei mir fanden, eskalierte die Lage. Auf einen Schlag war ich mittellos und auf mich allein gestellt.
Somit gab es kein Zurück mehr. Ich war gezwungen, mich in eine neue Welt zu begeben, deren Regeln ich erst noch lernen musste. In meiner Einsamkeit ging ich an den Ort, der mir schon so oft Zuflucht bot. So landete ich wieder bei Toni an der Tanke, doch diesmal auf der anderen Seite der Ladentheke. Toni bot mir an, für ihn zu arbeiten, um so mein eigenes Geld zu verdienen. In der ersten Zeit konnte ich in der Tankstelle übernachten.
Mein Einkommen würde für eine kleine Besenkammer in einer überladenen WG in einem der Wohnheime reichen. So hätte es wohl enden können, doch ich hatte noch nicht genug gelernt. Mit meinen Eltern hatte ich schnell abgeschlossen, mit den Drogen und meinem damaligen Lebensstil jedoch nicht. Schnell vermisste ich meinen alten Wohlstand. Um zu meinem dekadenten Leben zurückzukommen, musste ich mir eine neue Einnahmequelle erschließen. Auf der Suche kam ich mit dem Dealer meines Vertrauens ins Gespräch. Dieser eröffnete mir ganz neue Möglichkeiten. In einer weiteren umtriebigen Nacht kamen wir auf die Idee, die Ladentheke der Tankstelle für meine Deals zu nutzen. Der Return of Investment lag bei 400 Prozent.
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