Seit 2011 werden die grünen Erfolge in der Kneipe Schlesinger nahe der Uni gefeiert. Diesmal in der inzwischen typischen, in den Kretschmann-Jahren gewachsenen Selbstsicherheit. "Wir wollen weiter feiern", sagt einer mit Blick auf den März 2026. Denn während die CDU noch zaudere, hätten die Grünen ihren "spitze Spitzenkandidaten" bereits benannt. Der Noch-Bundeslandwirtschafts- und Bundeswissenschaftsminister Özdemir war und ist tatsächlich schon jetzt viel unterwegs nicht nur in Baden-Württemberg. Er ist auch der erste Promi, der am Tag nach der Wahl Rede und Antwort steht. Im Morgenfernsehen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entwickelt er die Idee, dass noch der alte Bundestag mit seiner verfassungsändernden Mehrheit die Schuldenbremse lockern könnte. Wenn es tatsächlich dazu kommt, hat der das Copyright und ohne Zweifel ein Pfund im künftigen Wahlkampf wegen der beträchtlichen Auswirkungen, die eine solche Öffnung für viele Menschen hätte.
Linke Hochstimmung im Sunny High
So richtig Freude haben an diesem Sonntagabend aber andere. Die Linke im Südwesten schickt sechs Mandatare nach Berlin, darunter Luigi Pantisano. Natürlich ist er der Held dieses denkwürdigen 23. Februar, der im Sunny High Club gegenüber dem Cannstatter Bahnhof gefeiert wird. Der 46-jährige Neu-MdB und Noch-Stadtrat kommt aus dem Strahlen nicht heraus, nimmt die Umarmungen und Huldigungen mit großen Augen entgegen, als könne er es immer noch nicht fassen, was an diesem Tag passiert. "Vor vier Jahren", sagt er, "war ich in unserem Laden noch der Jüngste. Heute bin ich der Älteste." Auf die Frage von Kontext, ob er weiß, wer sich am meisten über seinen Sitz im Bundestag freut, kommt es wie aus der Pistole geschossen: "Der Nopper natürlich." In der Tat dürfte der Stuttgarter CDU-OB Frank Nopper über Pantisanos Abgang beglückt sein: Keiner hat ihn im Gemeinderat so gequält wie der linke Luigi, der sich seinerseits schon auf Anrufe aus dem Rathaus freut. "Herr Nopper", wird er dann fragen, "was kann ich für Sie tun?"
Derweil halten sich alte Linke am Tresen fest und können kaum glauben, was sie sehen. Eine wogende Menge junger Menschen, die die "Internationale" singen, völlig egal, wer auf den Bildschirmen aus Berlin grade auftaucht. Bernd Riexinger, inzwischen 69, kann sich nicht mehr erinnern, wann und ob die Stimmung in einer Partei jemals so ausgelassen war: "Dass ich sowas nochmal erleben durfte." Er beharrt aber auf dem Hinweis, dass die Jungen ohne ihre Väter und Großväter nicht so erfolgreich feiern könnten.
Völlig geplättet ist Tom Adler (70). Der Stuttgarter Ex-Stadtrat sieht das "linke Wunder" uneingeschränkt bei den Jungen und erzählt, wie sie aus Stuttgart nach Berlin-Neukölln gefahren sind, um für die neue linke Ikone Ferat Ali Kocak an tausenden Haustüren zu klingeln. Mit durchschlagendem Erfolg: Kocak ist der erste linke Politiker, der außerhalb der ehemaligen DDR einen Wahlkreis gewann. "Das ist kein Wahlkampf", titelte der Tagesspiegel, "das ist Bewegung."
Kretschmann und Hagel: Das Land ist nicht der Bund
Auch Winfried Kretschmann hat Zeitung gelesen und zitiert – es könnte mit einem Schuss Wehmut sein – aus einem Kommentar dazu, wie sich die Linke wieder gefunden haben. Und dann macht er, was alle seine CDU-Vorgänger im Falle schlechter Bundestagswahlergebnisse seit den Siebziger Jahren ebenfalls gemacht haben. Er zieht eine scharfe Trennlinie zwischen Berlin und dem Land, bestens vorbereitet sogar mit Zahlen: 2016 hätten seine Grünen um 19,3 Prozentpunkte besser abgeschnitten als bei der Bundestagswahl, 2021 um 15,4 Prozent. Und im Übrigen lobt er die Zusammenarbeit mit der CDU im Land weiter gebetsmühlenhaft als "professionell, handwerklich gut, lösungsorientiert".
Manuel Hagel macht ebenfalls feine Unterschiede zwischen Land und Bund und setzt dennoch mit seiner Zustandsbeschreibung schon Stunden nach Schließung der Wahllokale mit dem Appell, "rauszukommen aus den Schützengräben, die der Wahlkampf rhetorisch mit sich gebracht hat". Das sei jetzt vorbei, jetzt müsse man aufeinander zugehen, sich die Hand reichen und "nicht mehr fragen, womit sich jeder und jede Partei besonders wohlfühlt, sondern was ist jetzt wichtig fürs Land".
Eine Einlassung, die also offenbart, wie Hagel selbst Handelnde in seiner CDU in den vergangenen Wochen als rhetorisch im Schützengraben wahrgenommen hat. Eine erste Runde aller baden-württembergischen Spitzenkandidaten im SWR-Fernsehen am Montagabend offenbart dann gleich auch noch, wie schwer das Aufeinanderzugehen werden könnte, wenn die AfD immerwährend von ganz rechts, auf vermeintliche oder sogar tatsächliche Übereinstimmungen mit den Schwarzen verweist und auf zügige Positionsänderungen – siehe Schuldenbremse.
SPD und FDP im Abwehrkampf
Stuttgarter und andere Sozialdemokrat:innen treiben erst recht große Probleme um. Es schaut in den ersten Stunden nach der Wahl fast so aus, als hätte das ganze Ausmaß des Niedergangs viele in der Partei noch gar nicht so richtig erreicht, Saskia Esken inklusive. Die Bundesvorsitzende hat in ihrem Wahlkreis Calw gerade mal 12,6 Prozent der Erststimmen eingefahren, nach 16,9 Prozent im Jahr 2021. Die SPD weiterhin zu führen, kann sie sich dennoch vorstellen. Sie habe fünfeinhalb Jahre an der Geschlossenheit "und an der breiten und tiefen Verankerung der Partei auch in sich selbst gearbeitet". Das, so die 63-Jährige, "gedenke ich weiter zu tun". Die Halbwertzeit der Äußerung muss erst noch festgelegt werden.
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o aus h
vor 3 Wochen