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Bundestagswahl

Fünf-Prozent-Falle

Bundestagswahl: Fünf-Prozent-Falle
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Die AfD könnte auch dann ein Drittel der Mandate und damit eine Sperrminorität erhalten, wenn ihr Ergebnis unter 30 Prozent bleibt. Grund: Die Fünf-Prozent-Hürde sorgt dafür, dass die Stimmen der kleinen Parteien unter den großen aufgeteilt werden. Millionen Wähler:innen werden so um ihr Votum betrogen.

Die Fünf-Prozent-Falle hat bereits zwei Mal – in Brandenburg und Thüringen – dazu geführt, dass die AfD eine Sperrminorität erhalten hat, womit Änderungen der Verfassung, besonders gewichtige Gesetze oder die Wahl von Verfassungsrichtern erschwert werden. In Brandenburg genügten der Weidel-Partei im Herbst 29,2 Prozent der Stimmen, um über ein Drittel der Mandate zu ergattern.

Nur in Sachsen schrammte die AfD mit 40 von 120 Sitzen knapp an der Sperrminorität vorbei. Denn die Leipziger haben strategisch gewählt und in zwei Wahlkreisen ihre Erststimme gezielt den Kandidaten der Linken gegeben, die so zwei Direktmandate gewinnen konnten. Dies genügte, um in den sächsischen Landtag mit nur 4,5 Prozent der Stimmen einzuziehen. In Brandenburg dagegen gelang dies den Linken nicht. Auch Grüne, FDP und sonstige Kleinstparteien haben die geforderten fünf Prozent der Stimmen nicht erreicht. Jeder siebte Wähler (14,3 Prozent) hat damit einer Partei zu zusätzlichen Mandaten verholfen, die er nicht gewählt hatte. Etliche dieser Mandate kassierte die AfD.

Genau das gleiche kann Deutschland jetzt bei der Bundestagswahl erleben. Rechenbeispiel: Bei der Wahl zum Europa-Parlament, für das es keine Sperrklausel gibt, konnten elf Klein- und Kleinstparteien Mandate erringen: BSW (6), FDP (5), Die Linke (3), Volt (3), Freie Wähler (3), Die Partei (2), Tierschutzpartei (1), ÖDP (1), Familie (1) und PdF (1). Unterstellt, die Wahl am Sonntag hat ein ähnliches Ergebnis, und unterstellt, dass die genannten kleinen Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, würden rund ein Viertel (24,5 Prozent) der Sitze unter den großen Parteien verteilt. CDU/CSU und AfD könnten so mehrere Dutzend Mandate kassieren, obwohl die Wählerinnen und Wähler anders abgestimmt hatten.

Sperrminorität

Unwahrscheinlich? Vermutlich, aber nicht ganz. So wurden 2022 im Saarland 22,3 Prozent der Mandate im Landtag anderen Parteien zugeteilt, 1997 bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 19,2 Prozent und 2013 bei der Bundestagswahl 15,7 Prozent. Immer kommen die Stimmen für die kleinen Parteien den großen zugute. Bei der anstehenden Bundestagswahl vermutlich der SPD und den Grünen, aber vor allem CDU/CSU und AfD. Damit ist für die völkische Partei eine Sperrminorität im Bundestag nicht ausgeschlossen.

Bei dem 24,5-Prozent-Beispiel wären nur drei Viertel (75,5 Prozent) der Stimmen im neuen Bundestag abgebildet. Der Rest würde als "Sonstige" abgelegt. Gut für Friedrich Merz: Die Union könnte zusammen mit einem Partner mit nicht einmal 40 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Sitze erringen. Denn je mehr Parteien an der Fünf-Prozent-Klausel scheitern, desto weniger Prozentpunkte sind für eine Regierungsmehrheit erforderlich.

"Weimarer Verhältnisse"

Aber halt! Sollte die Fünf-Prozent-Hürde nicht verhindern, dass die Bonner Republik – wie die Weimarer – an ihren vielen Parteien scheitert? Auch auf Kosten des Gleichheitsgrundsatzes, für den Republikaner schon bei der 1848er Revolution gekämpft hatten? Tatsächlich waren im Reichstag bis zu 15 Parteien (1928 und 1930) vertreten, darunter viele, die weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten hatten. Doch daran ist keine der damaligen Regierungen gescheitert.

Auch bei den drei letzten Reichstagswahlen hätte eine Sperrklausel nichts Wesentliches geändert. Bei den zwei Wahlgängen 1932 kamen die Kleinen auf 20 beziehungsweise 24 Mandate (von 604 beziehungsweise 584), bei der Wahl im März 1933 auf 14 (von 566) Mandate, was einem Anteil von 3,5 Prozent entspricht.

Das Ermächtigungsgesetz, dem 444 Abgeordnete zustimmten, hätte auch ohne diese Parteien eine Zweidrittelmehrheit erhalten. Nur die 94 anwesenden SPD-Abgeordneten stimmten dagegen. Mit 81,8 Prozent Zustimmung war die erforderliche Mehrheit leicht erreicht worden. (Die 81 KPD-Mandate waren schon vor der Abstimmung gestrichen worden.)

Ermächtigungsgesetz

Selbst der katholische Zentrumspolitiker Eugen Bolz, langjähriger Staatspräsident in Württemberg, hatte zugestimmt. Genauso Liberale wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss und Reinhold Maier, Baden-Württembergs erster Ministerpräsident. Folge: Die Regierung unter Adolf Hitler konnte Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments beschließen; die Gewaltenteilung war ausgehebelt.

Um dies zu verhindern, so die gängige Erzählung, hätten die "Väter und Mütter des Grundgesetzes" für die Bonner Republik die Fünf-Prozent-Schranke eingeführt. Verschwiegen wird dabei, dass ursprünglich eine viel niedrigere Hürde galt: Eine Partei konnte in den Bundestag einziehen, wenn sie zumindest in einem Bundesland die fünf Prozent erreicht hat. Erst seit 1953 muss eine Partei diese Hürde bundesweit erreichen oder mindestens drei Direktmandate erringen – die sogenannte Grundmandatsklausel. Ein schönes Geschenk für die großen Parteien, die sich seither die Sitze der kleinen untereinander entsprechend ihrem Stimmenanteil aufteilten.

Der letzte Schlag gegen den Gleichheitsgrundsatz stammt von der Ampel-Koalition, als sie 2023 auch noch die Grundmandatsklausel abgeschafft hat. Doch das Bundesverfassungsgericht hat die Änderung als verfassungswidrig abgelehnt. So kann die Partei Die Linke hoffen, wie 2021 auch, bei schlechtem Wahlergebnis wieder ins Parlament einzuziehen. Man setzt auf die "Mission Silberlocke", auf Direktmandate von Promis wie Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow. Auch die Freien Wähler und das BSW hoffen auf einen derartigen Effekt.

Wahllotto

Viele Wählerinnen und Wähler sehen sich wegen der Fünf-Prozent-Falle gezwungen, taktisch zu wählen. In der Regel profitierten davon größere Parteien aus dem politischen Lager, dem man sich mehr oder weniger zugehörig fühlt. Zum Nachteil der Kleineren.

Aber auch Anhänger größerer Parteien haben nicht selten ihr Kreuzchen taktisch gesetzt. Traditionelle CDU/CSU-Wähler entschieden sich (mit der entscheidenden Zweitstimme) für den gewünschten Koalitionspartner FDP, da die Liberalen sonst möglicherweise den Einzug ins Parlament verpasst hätten. Ähnlich könnten diesmal SPD- und Grünen-Wähler argumentieren und der Partei Die Linke eine "Leihstimme" geben. So könnten sie verhindern, dass Stimmen für die Linken (vor allem) der AfD und der CDU zugutekommen.

Das Wahlvolk stochert also im Nebel, könnte sich fühlen wie bei einem Wahllotto. Ein Armutszeugnis, wenn eine repräsentative Demokratie nicht in der Lage ist, das Parlament so wählen zu lassen, dass sich alle Bürger darin repräsentiert fühlen können. Doch kaum eine Politikerin oder ein Politiker will daran etwas ändern. Auch die AfD nicht, die die Sperrklausel früher noch kritisiert hatte und heute die große Profiteurin ist. "Die Fünf-Prozent-Hürde ist demokratisch fragwürdig", sagte der damalige AfD-Parteichef Bernd Lucke 2014, "weil durch sie im Prinzip einer beliebig großen Zahl von Wählern die Teilnahme an der demokratischen Willensbildung verwehrt werden könnte".

Präferenz-Wahlsystem

Also weg mit der Hürde? Oder zumindest absenken? Oder ein Präferenz-Wahlsystem mit Erst- und Zweitpräferenz-Stimme: Falls die bevorzugte Partei an der Sperrklausel scheitert, käme die Stimme der Partei zu Gute, die auf dem Wahlzettel als Ersatz angegeben ist. Dies schlägt der Verein Mehr Demokratie seit vielen Jahren vor, und zwar für Bundes- und Landtagswahlen. Doch kaum ein gewählter Repräsentant des Wahlvolkes interessiert sich dafür.

Bei fast allen Wahlrechtsreformen ging es vor allem um den eigenen Vorteil, um den Vorteil einer Partei, der Parteispitze oder der Klientel, der man sich verpflichtet fühlt. Keine Diskussion darüber, ob es bessere Lösungen gibt. Obwohl laut der jüngsten Leipziger Autoritarismus-Studie die Zustimmung zur "Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert" inzwischen auf 42,3 Prozent gesunken ist. Das Ansehen der Parteien ist noch schlechter.

Ob es zu einer nachhaltigen Verbesserung kommt, wird von den Abgeordneten abhängen, die jetzt gewählt werden. Zumindest wenn sie die Grundmandatsklausel weiterhin abschaffen wollen. Denn dann, so das Bundesverfassungsgericht im Sommer 2024, kann die Fünf-Prozent-Schranke nicht bestehen bleiben.

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9 Kommentare verfügbar

  • Franz-Josef
    am 24.02.2025
    Antworten
    Ich bemängele schon seit Jahren die 5%-Klausel als extrem undemokratisch, weil dadurch der Grundsatz der Stimmengleichheit nicht mehr gilt: Ob eine (gültig abgegebene!) Stimme zählt oder nicht zählt hängt ab davon, welche Partei man gewählt hat. Das darf nicht sein!
    Alle gültigen Stimmen müssen…
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