Wenn eine Grundleistungen beziehende Person allerdings einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgeht, dann geht damit auch die Krankenkassenmitgliedschaft einher. Endet aber diese Beschäftigung, bevor die Person seit 36 Monaten in Deutschland gewesen ist, fällt die Person in den AsylbLG-Grundleistungsbezug zurück – mit der bereits erwähnten eingeschränkten gesundheitlichen Versorgung.
Wer trägt die Kosten?
Allerdings ist es nicht möglich, die Krankenkasse zu kündigen, außer man hat eine anderweitige ausreichende Absicherung – beispielsweise eine private Krankenversicherung. Hat man diese nicht, kommt mit dem Ende der Versicherungspflicht (etwa durch Beendigung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung) eine obligatorische Anschlussversicherung (OAV) zum Tragen. Man muss also auf jeden Fall Mitglied einer Krankenkasse bleiben. Das Bundessozialgericht (BSG) hat 2022 entschieden, dass die eingeschränkte gesundheitliche Versorgung des AsylbLG keine solche anderweitige Absicherung darstellt. Heißt: Wenn Asylsuchende während ihrer ersten 36 Monate in Deutschland ihre sozialversicherungspflichtige Arbeit verlieren, greift die obligatorische Anschlussversicherung. Das Bundessozialgericht entschied aber nicht, wer die Beitragskosten tragen muss. Während in Rheinland-Pfalz die Landesregierung klargestellt hat, dass die Sozialämter dies zu tun haben, ist in Baden-Württemberg das zuständige Ministerium für Justiz und Migration der Meinung, es würde keine Rechtsgrundlage für eine Übernahme der Beiträge durch die Sozialämter geben. Hier sei eine Gesetzeslücke, die nur auf Bundesebene geschlossen werden könne. Das schrieb das Ministerium am 26. August 2024 an die Landkreise und Kommunen und kündigte gleichzeitig an, dass Behörden, welche die Beiträge bislang übernommen haben, diese ab 2025 nicht mehr vom Land erstattet bekommen würden.
Die Folge davon war, dass Tausende Menschen landesweit plötzlich Beitragsrechnungen erhielten, die sie keinesfalls bezahlen konnten. Die Beiträge liegen meist um die 250 Euro im Monat für eine alleinstehende Person – die nach AsylbLG einen monatlichen Regelsatz von 460 Euro erhält.
Es dauerte nicht lange, bis Betroffene bei Beratungsstellen, Hilfsorganisationen und Anwaltskanzleien aufschlugen. Der Freiburger Rechtsanwalt Martin Weise, der für die erste erfolgreiche Klage gegen die verweigerte Übernahme der Beiträge verantwortlich war, schätzt, dass er um die 30 Mandate zu dieser Thematik übernommen hat. "Das ist für meine kleine Kanzlei schon recht viel. Tatsächlich betroffen dürften aber viel mehr Personen sein. Viele dürften aber gar nicht wissen, wie sie sich gegen die Ablehnung der Landratsämter zur Wehr setzen können. Die 'Dunkelziffer' scheint mir recht hoch zu sein", sagt der Jurist.
Die AOK Baden-Württemberg hat nach eigenen Angaben um die 1.400 Mitglieder, die obligatorisch anschlussversicherte AsylbLG-Grundleistungsbeziehende sind. Die anderen großen Krankenkassen TK, DAK und Barmer gaben an, ihnen lägen entsprechende Zahlen nicht vor. Die Landesvertretung des Verbandes der Ersatzkassen reagierte trotz zweimaliger Nachfrage nicht.
Die klagenden Geflüchteten bekamen immer Recht
Die vom Rechtsanwalt Weise erstrittene erste Entscheidung eines Baden-Württembergischen Sozialgerichts kam am 17. März 2025 vom Sozialgericht Freiburg. Sein Mandant, ein 25-jähriger syrischer Kurde, verklagte das Landratsamt des Ortenaukreises, es ging um die monatlichen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in einer Gesamthöhe von 232,13 Euro. Der junge Mann war Ende 2022 nach Deutschland gekommen und hatte 2023 knapp vier Monate bei einer Firma in Karlsruhe gearbeitet, bevor er das Arbeitsverhältnis im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber auflöste und einen Deutschkurs begann.
Als ihm die Beiträge für die OAV, die obligatorische Anschlussversicherung, in Rechnung gestellt wurden, beantragte er deren Kostenübernahme durch das Sozialamt. Ohne Erfolg. Zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung war der junge Mann bereits als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt worden, war also nicht mehr im AsylbLG-Bezug. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt fünf Monate lang 232,13 Euro aus seinem Regelsatz und dem Einkommen einer geringfügigen Beschäftigung für die Versicherungsbeiträge aufgewendet.
Das Gericht sah – im Gegensatz zum Ministerium für Justiz und Migration – durchaus eine Rechtsgrundlage für eine Übernahme der Beiträge, nämlich § 6 AsylbLG. Danach können "sonstige Leistungen" – also solche, die nicht in den AsylbLG-Grundleistungen vorgesehen sind – gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich sind. Die Übernahme der Beitragskosten sah das Gericht zur Sicherung des Lebensunterhalts als unerlässlich an, weil die Beiträge sonst das Einkommen größtenteils aufzehren würden. Dieser Argumentation schlossen sich auch die Sozialgerichte in Heilbronn, Karlsruhe und Stuttgart an. Zusätzlich wiesen die Heilbronner und Karlsruher Gerichte darauf hin, dass bei der umfassenden Novellierung des AsylbLG 2014 explizit in die Gesetzesbegründung geschrieben wurde, dass für Personen im Grundleistungsbezug, die gleichwohl gesetzlich krankenversichert sind, "eine ergänzende Bedarfsdeckung über den § 6" erfolgt.
Zauberwort "Einzelfallentscheidung"
Gemessen an der Anzahl der Betroffenen erscheint die Anzahl der Klagen vergleichsweise gering. Sechs der acht erstinstanzlichen Sozialgerichte im Land nannten auf eine Kontext-Anfrage die Zahl der in dieser Sache eingegangenen Klagen. Zählt man diese zusammen, kommt man auf insgesamt zwischen 50 und 70 Klagen an diesen sechs Gerichte. In allen bisher veröffentlichten Entscheidungen bekamen die klagenden Geflüchteten Recht – auch vor dem Landessozialgericht, das sich am 4. August erstmals in einer Entscheidung mit dieser Thematik befasste.
Trotz der hohen Erfolgschancen und der ohne Rechtshilfe drohenden enormen finanziellen Schäden klagt also nur ein Bruchteil der Betroffenen. Es gibt offenbar bedeutende Hürden beim Zugang zum Recht. Abhilfe könnten die Behörden schaffen, indem sie die einhellige Rechtsprechung bis hin zum Landessozialgericht zum Anlass nehmen, um die Praxis zu ändern. Doch sie bleiben stur.
Ende Juli wandte sich die SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Kliche-Behnke mit einem Brief an Justizministerin Marion Gentges (CDU). Die Tübinger Sozialdemokratin, die stellvertretende Vorsitzende ihrer Fraktion und Sprecherin für Integration und Sozialpolitik ist, sagte gegenüber Kontext, sie finde es "mehr als bedenklich, dass das Land trotz mehrfacher Rechtsprechung auf seiner Auslegung beharrt". Die Ministerin müsse erklären, "warum sie gegen alle Widerstände daran festhält, Krankenkassen und Betroffene im Stich zu lassen". In ihrem Brief verwies sie auf die Gerichtsentscheidungen, die anderslautende Praxis in Rheinland-Pfalz und die negativen Folgen für die Betroffenen wie für die Krankenkassen.
Die von Staatssekretär Siegfried Lorek (CDU) unterzeichnete Antwort wiederholte weitgehend wortgleich die Argumentation aus dem vorjährigen Rundschreiben: Eine Übernahme der Beitragskosten nach § 6 AsylbLG sei nicht möglich. Eine Abweichung davon sei "auch ausgehend von den von Ihnen angeführten Einzelfallentscheidungen unterschiedlicher Sozialgerichte" nicht geplant, teilte Lorek der SPD-Abgeordneten mit.
"Einzelfallentscheidung" ist das Zauberwort all derer, die eine rechtswidrige Praxis trotz gerichtlicher Klatsche aufrechterhalten wollen. Bundesinnenminister Dobrindt und seine rechtswidrigen Zurückweisungen an deutschen Grenzen lassen grüßen. Das Justizministerium ließ auf expliziter Nachfrage von Kontext offen, was an den "Einzelfallentscheidungen" so besonders sei, dass sich ihre zentralen Punkte nicht auf andere Fälle übertragen lassen. Das Ministerium teilte lediglich mit, es werde an seiner Rechtsauffassung festhalten.
Das Sozialgericht Karlsruhe ist irritiert
Die zwölfte Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe, die Ende März dieses Jahres eine der ersten Entscheidungen in dieser Sache gefällt hatte und dabei mit der eingangs erwähnten Wortwahl einen mutmaßlich besonders schweren Betrug durch staatliche Stellen erkannt zu haben meinte, zeigte sich angesichts der anhaltenden Uneinsichtigkeit der Behörden zunehmend irritiert. Am 21. Juli entschied die Kammer in gleich vier Fällen zum Thema OAV-Beiträge und holte dabei zum Rundumschlag gegen das Justizministerium aus.
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