Gut die Hälfte der Deutschen, 51 Prozent, ist mit unserer Demokratie nicht zufrieden, das ergab eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) aus dem Jahr 2023. Und nur noch ein Viertel halte die repräsentative Demokratie für das beste Modell. Noch schlechter die Werte in der jüngsten Leipziger Autoritarismus-Studie: Danach ist die Zustimmung zur "Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert", sogar auf 42,3 Prozent gesunken. Ein gefundenes Fressen für völkische Gruppen und Parteien wie die AfD, die auf Wahlplakaten mit "Mehr Demokratie wagen!" auf Stimmenfang geht. Eine Anspielung auf Willy Brandt (SPD), der in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler 1969 genau dies versprochen hatte.
55 Jahre später will ein ehemaliger BASF-Manager aus Bietigheim im Kreis Ludwigsburg die Demokratie in Baden-Württemberg retten oder, wie er sagt, seinen "Beitrag zur Demokratie" leisten. Dieter Distler (81) will dem baden-württembergischen Landtag mit einem Volksbegehren eine Schlankheitskur verpassen. Denn mit der jüngsten Wahlrechtsreform werde das Landesparlament unnötig mit Überhang- und Ausgleichsmandaten aufgebläht, je nach Wahlausgang auf bis zu 220 Abgeordnete, was mit Mehrkosten von bis zu 200 Millionen Euro pro fünfjähriger Legislaturperiode verbunden sein könnte. 40 Millionen bzw. 0,04 Milliarden Euro jährlich – bei einem Landeshaushalt für 2025 von 66,5 Milliarden Euro.
Der Hintergrund: Grüne, CDU und SPD hatten vor zwei Jahren das alte Wahlrecht, bei dem man nur eine Stimme hatte, geändert. Das neue sieht – wie bei den Wahlen zum Bundestag – zwei Stimmen vor: die erste für den Direktkandidaten im Wahlkreis, die zweite für die Parteiliste. FDP und AfD hatten gegen die Reform gestimmt.
Aufblähung auch beim alten Wahlrecht möglich
Ob es tatsächlich zu einem "XXL-Landtag" kommen wird, kann niemand voraussagen. Abhängig ist dies von der Zahl der Parteien, die in den Landtag einziehen, und davon, wie oft Wählerinnen und Wähler ihre Erst- und Zweitstimme unterschiedlichen Parteien geben. Denn wenn eine Partei nahezu alle Wahlkreise gewinnt, aber wesentlich weniger Zweitstimmen erhält, kommt es zu Überhangmandaten.
Doch auch beim alten Wahlrecht sei "die Aufblähungsproblematik in gleicher Weise vorhanden gewesen", sagt Edgar Wunder von Mehr Demokratie e. V. Baden-Württemberg. Der Verein würde eine zuverlässige Fixierung des Landtags auf eine Sollgröße von 120 Abgeordneten befürworten. Das Distler-Volksbegehren unterstütze man entgegen anderslautenden Medienberichten aber nicht.
Dieter Distler will die Zahl der derzeit 70 Wahlkreise auf 38 – wie bei der Bundestagswahl – nahezu halbieren. Außerdem soll die Mindestgröße des Landtags von derzeit 120 auf 68 Mandate verringert werden. Aktueller Stand wegen der Überhandmandate: 154. Von den 68 Mandaten würden nach dem Distler-Modell 30 Volksvertreter über die Parteilisten bestimmt. Das Ziel, so der parteilose Ex-Manager: "Einschließlich Überhang- und Ausgleichsmandaten wollen wir wieder unter 120 Sitze kommen."
Auch die FDP wollte das neue Landtagswahlrecht mit einer Volksabstimmung zu Fall bringen. Doch Innenminister Thomas Strobl (CDU) hat die Vorlage nicht zugelassen, da der in der Landesverfassung vorgeschriebene Grundsatz der Persönlichkeitswahl in dem FDP-Modell missachtet werde. Grund: Nur 38 von 120 Volksvertretern würden direkt gewählt, 82 über die Liste. Für die FDP kein Problem, denn sie hat in Baden-Württemberg ohnehin noch nie ein Direktmandat bekommen.
Jetzt muss der Verfassungsgerichtshof in Stuttgart entscheiden, ob der FDP-Vorschlag gegen den Grundsatz eines ausgewogenen Mischverhältnisses von Persönlichkeits- und Verhältniswahl verstößt. Gerichtspräsident Malte Graßhof hat eine Entscheidung für Februar 2025 in Aussicht gestellt. Um keine Zeit zu verlieren, sammelt die FDP mittlerweile Unterschriften für Dieter Distlers Volksbegehren.
CDU ist für die Reform – seit ihrem Wahldebakel
Aber was hat die CDU 2022 dazu veranlasst, ihren Widerstand gegen eine Änderung des alten Wahlrechts aufzugeben? Schließlich profitierte die Partei jahrzehntelang davon. Das Umdenken setzte erst nach dem Wahldebakel 2021 ein, als nicht einmal die beiden CDU-Spitzenkandidaten in den Landtag einziehen konnten. Damals hatte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) mit 40 Prozent der Stimmen im Wahlkreis Stuttgarter II dafür gesorgt, dass die CDU-Kandidatin, die Ministerpräsident Winfried Kretschmann ablösen sollte, nicht in den Landtag einziehen konnte. Susanne Eisenmann, bis dahin Kultusministerin, erreichte gerade 22 Prozent. Das war eines der schlechtesten CDU-Ergebnisse im ganzen Land, so dass Eisenmann auch kein Zweitmandat zustand. Ebenfalls nicht geschafft hatte es der damalige CDU-Landesvorsitzende und Innenminister Thomas Strobl. Er bekam in Heilbronn 23 Prozent der Stimmen, die Grünen-Landtagsabgeordnete Susanne Bay dagegen 30 Prozent.
Mit dem neuen Wahlrecht werden die Wählerinnen und Wähler unbeliebte Spitzenleute nicht mehr abwählen können. Denn dann entscheidet die jeweilige Partei über die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste. Eisenmann und Strobl hätten so einen Sitz im Landtag erhalten. Bei der Wahlrechtsreform ging es also vor allem um die Macht der Partei und ihrer Spitzengremien, um den eigenen Vorteil, nicht um eine Verbesserung der repräsentativen Demokratie.
Es gäbe also durchaus Gründe, die Wahlrechtsreform kritisch zu sehen. Doch die Genannten interessieren die Unterstützer:innen des Distler-Begehrens wenig. Darunter nicht nur die üblichen Verdächtigen: FDP, Verband der Familienunternehmer, Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern, Bund der Steuerzahler oder Wirtschaftsrat der CDU. Inzwischen gibt es auch in der linksliberalen und grünalternativen Szene Mail-Aufrufe, die "Landtag verkleinern" fordern. Außerdem kursieren Flugblätter mit dieser Forderung, die unter anderem bei den Montagsdemonstrationen der Stuttgart-21-Gegner:innen verteilt worden sind.
Ziel: schlanker Staat – und schlanke Demokratie
Ein Argument der Kritiker: Das Landesparlament werde immer unwichtiger. So zum Beispiel André Bartel, der Chef der "Familienunternehmer" in Baden-Württemberg. So kann man auch über die höchsten Repräsentanten unserer Demokratie denken. Dabei hatte sich übrigens gerade während der Pandemie gezeigt, wie wichtig die Länder sein können. Bartel befürchtet mit mehr Abgeordneten eine "noch größere Regulierung zu befürchten". Wer für einen schlanken Staat und weniger Bürokratie sei und nicht nur "bruddeln" wolle, so zitiert ihn die Stuttgarter Zeitung, "müsse jetzt aktiv werden". So der Unternehmer, dessen Firma Barit von Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) erst vor zwei Jahren mit der Wirtschaftsmedaille des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet wurde.
Ähnliche Stoßrichtung bei Peter Haas: "Mehr Abgeordnete bedeuten nicht nur Millionen an zusätzlichen Ausgaben", sagt der Hauptgeschäftsführer des Handwerkstages im Land, "sondern auch mehr Beamtenstellen, also noch größere Verwaltung und langsamere Prozesse." Das, so der baden-württembergische Industrie- und Handelskammertag, sei "alles andere als ein klares Bekenntnis zu schlanken Strukturen und einem ernst gemeinten Bürokratieabbau".
Sie alle wollen nicht nur einen schlanken Staat – man kennt die Forderung von Donald Trump und Elon Musk –, sondern auch eine schlanke Demokratie, denn so können sie ihre Ziele einfacher und schneller durchsetzen. Deregulierung, Privatisierung, weniger Steuern für Handwerker, Gut- bis Bestverdiener und "Familienunternehmer" und deren Firmen.
Dabei ist der Verband der Familienunternehmer, anders als der Name vermuten lässt, ein Zusammenschluss "relativ weniger, dafür aber umso mächtigerer Großunternehmer" ("Die Zeit"). In Baden-Württemberg gehören Unternehmen wie Stihl, Trumpf und Kärcher zum Verband. Laut der Wochenzeitung "Die Zeit" besteht der Verband vor allem aus Vertretern der Eliten, die häufig "mithilfe von viel Geld und aggressiven Kampagnen Neuerungen blockieren, die viele als ökologischen oder sozialen Fortschritt empfinden". Seit Jahren kämpft man erfolgreich gegen Vermögens- oder höhere Erbschaftsteuern, hat Lieferkettengesetze verteufelt oder lehnt Transparenz-Regeln ab.
Lobbyisten fordern Bürokratieabbau
Die Überschrift der Kampagnen der "Familienunternehmer" und anderer Wirtschaftslobbyisten heißt meist "Bürokratieabbau". Klingt gut, keiner würde widersprechen, wenn es dabei um die Verwaltung geht, die sich mit unnötigen Gesetzen oder Verordnungen herumschlagen muss. Oder die schlecht ausgestattet und schlecht organisiert ist. Doch was hat das mit dem Landtag zu tun, einem der wichtigsten Gremien einer repräsentativen Demokratie?
Hat es der Landtag, der gesetzgebende Gewalt ausübt und die Regierung kontrollieren soll, nicht eher verdient, gestärkt zu werden, damit er seine Aufgaben endlich zur Zufriedenheit der Wähler – oder zumindest eines großen Teils der Wähler – erfüllen kann? Damit sich die Menschen mit ihren Repräsentanten wieder ein wenig mehr identifizieren können? Könnte es nicht sein, dass das Vertrauen in die Parlamente unter anderem daran liegt, dass man "seinen" Abgeordneten während einer Legislaturperiode zumindest einmal gesehen hat, dass man vielleicht sogar die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen? Eine Halbierung der Wahlkreise wäre dafür nicht hilfreich.
Es gäbe bessere Wege, die Demokratie zu stärken
Und hat der schlechte Ruf unserer politischen Repräsentanten nicht auch mit den Lobbyisten zu tun, die jetzt die Demokratie verschlanken wollen, damit sie ihre Interessen erfolgreicher durchsetzen können? Und mit Abgeordneten, die sich weigern, Nebeneinkommen und mögliche Abhängigkeiten per Gesetz offenzulegen? Jedenfalls ist der Südwest-Staat neben Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen das einzige Flächenland, in dem die Abgeordneten nicht einmal die Höhe Ihrer Nebeneinkünfte veröffentlichen müssen, sagt Siegfried Gergs von der Regionalgruppe Transparency International in Baden-Württemberg. Doch genau dies sei nötig, um "das Vertrauen in die Integrität des Mandats zu gewährleisten, denn die Abgeordneten müssen frei sein von Interessenkonflikten". Eine von etlichen Möglichkeiten, repräsentative Demokratie zu stärken. Auch auf ein Transparenzgesetz warten die Bürger seit Jahren. Ganz abgesehen vom Wunsch nach mehr direkter Demokratie (41 Prozent laut FES-Studie).
Doch im Ländle streitet man zurzeit lieber über einen XXL-Landtag. Nach Angaben von Dieter Distler haben inzwischen 56.533 Wahlberechtigte das Volksbegehren "Landtag verkleinern" unterschrieben (Stand 30. November 2024). Das Ziel: 770.000 bis zum 11. Februar 2025. Was in der Debatte um das Volksbegehren wochenlang meist unerwähnt blieb: Am Wahlrecht bei der nächsten Landtagswahl – voraussichtlich im März 2026 – wird sich ohnehin nichts ändern, denn bereits ab 1. Februar 2025 können die Kandidatinnen und Kandidaten nominiert werden.
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Rebstock
am 19.12.2024