"Eine souveräne Regierung zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie gute Ideen der Opposition aufgreift, wenn sie den Menschen in unserem Land helfen": Wahre Worte von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zum Auftakt seiner dritten und letzten Legislaturperiode, die problemlos auf die Regierungsfraktionen zu übertragen wären. Im parlamentarischen Alltag allerdings sind sie graue Theorie. Selten werden Initiativen von allen vier demokratischen Fraktionen getragen, noch seltener übernehmen Grüne und CDU einen Vorstoß von SPD und FDP.
Diesmal stehen die Liberalen mit ihrem Gesetzentwurf zur Verringerung der Zahl der Wahlkreise und damit der Landtagsabgeordneten ganz allein da. Denn die Auswirkungen ihrer Pläne sind erheblich, eine ernsthafte Auseinandersetzung unausweichlich. "Nehmen Sie den Warnschuss ernst", appelliert Edgar Wunder, der Landesvorstandssprecher der NGO "Mehr Demokratie" an die Regierungsfraktionen. Es bestehe wirklich Handlungsbedarf, um eine weitere Vergrößerung des Landesparlaments zu verhindern. Aber: Die Idee der FDP kostet Mandate. Stand heute müssten 34 Abgeordnete aus dem Landtag ausziehen. So hätten beispielsweise die Stuttgarter Grünen nicht mehr die vier Sitze von heute, sondern bloß noch zwei.
Landtagsabgeordnete würden am eigenen Stuhl sägen
Logischerweise wären viele Regionen im Südwesten stark betroffen, gäbe es statt wie gegenwärtig 154 wieder rund 120 Sitze im Parlament. Mit ihrer Zustimmung würden etliche Volksvertreter:innen buchstäblich am eigenen Stuhl sägen. Die Verbleibenden müssten auf einen Schlag sehr viel mehr Bürger:innen, Städten und Gemeinden, Feuerwehren, Vereinen, Verbänden und so weiter zur Verfügung stehen. Wer heute schon die Nachbarregion mitbetreut, weil seine Partei dort zu schlecht abschnitt, um einen Sitz im Landtag zu bekommen, kann ein Lied davon singen. Bei der Expertenanhörung vor einer Woche erzählt Arnulf von Eyb (CDU) – neben seinem Wahlkreis Hohenlohe für Schwäbisch Hall zuständig – aus seinem Leben: Keineswegs liege er "daheim auf der Chaiselongue", wenn er Termine nicht annehmen könne, sondern sei eben anderswo zugange. Und Norbert Brugger, erfahrener Referent beim Städtetag, wagt die These, dass die Bürgernähe zwangsläufig leide, würden aus 70 nurmehr 38 Wahlkreise. Sie herzustellen sei unmöglich aus der Ferne.
Aus der Nähe aber auch nicht zwingend. Winfried Kretschmann fällt in die Kategorie "nahbar" sicherlich nicht nur, weil er jeden Sonntag an der Kirche steht und Hände schüttelt. Er lebt seit dem Umzug vor mehr als 30 Jahren nicht mal mehr in seinem Wahlkreis Nürtingen. Und dennoch wird er als bürgernah wahrgenommen, weil er authentisch rüberkommt und öfter als andere Politiker:innen so redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Der Stuttgarter Politikprofessor Frank Brettscheider analysiert die Sprache und Verständlichkeit von Wahlprogrammen. Regelmäßig landet er bei niederschmetternden Befunden wegen all der kaum verdaulichen Bandwurmsätze, der Anglizismen, Wortungetüme oder Fachbegriffe. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben vor fast 15 Jahren verschiedene Faktoren für Politikverdrossenheit unter die Lupe genommen, darunter der Wunsch eines Fünftels der Befragten nach mehr direktem Kontakt. Inzwischen haben überdies die sozialen Medien stark an Bedeutung für das Verhältnis zwischen Volk und Vertrer:innen gewonnen.
Ein großer Landtag hat nur Nachteile, sagt der Experte
"Ein vergrößerter Landtag schafft keinen einzigen erkennbaren Vorteil", sagt jedenfalls Joachim Behnke, Professor an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und Wahlrechts-Experte, bei der Anhörung, "er hat aber gravierende Nachteile." Denn den höheren Kosten stehe nicht mehr Leistung gegenüber. Behnke verweist vor allem darauf, dass es mit dem FDP-Vorstoß nicht um eine Verkleinerung des Landesparlaments gehe, sondern um eine Rückführung auf die Regelgröße. Und er hat eine Untersuchung der Uni Mannheim im Gepäck, wonach Bürger:innen größerer Einheiten sich keineswegs schlechter repräsentiert fühlten und die Wahlkreisgrößen "Null Effekt auf die Demokratiezufriedenheit haben".
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Ulrich Hartmann
am 28.01.2023