Diese schwerwiegenden Eingriffe wurden in Bezug auf das Bundestagswahlrecht vom BVerfG noch nicht festgestellt. Zumindest 1990 erklärte das Gericht die Fünfprozenthürde noch für verfassungsgemäß, da ein funktionsfähiges Parlament höher zu bewerten sei als eine exakte Widerspiegelung des Wählerwillens. Es betont aber auch, dass "die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann". Klagen gegen die Fünfprozenthürde könnten also heute durchaus Aussicht auf Erfolg haben. Schwer abzuschaffen wäre sie jedenfalls nicht. "Die Fünfprozenthürde steht nicht im Grundgesetz, sondern in einem einfachen Gesetz, das könnte man sehr leicht ändern", sagt der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis.
Lehren aus Weimar? Humbug
Die Verteidiger der Sperrklausel betonen wiederum, diese habe sich bewährt. Und beim Punkt "bewährt" ist man auch schnell bei den "Lehren aus Weimar", von denen wahrscheinlich schon jeder einmal gehört hat, der Gemeinschaftskunde in der Schule hatte. Angeführt wird die Parteienzersplitterung im Reichstag der Weimarer Republik, die dazu geführt habe, dass es selten stabile Mehrheiten gegeben habe, was die Regierungsbildung erschwert und in den letzten Jahren schließlich zu den Präsidialkabinetten geführt habe, die den Reichstag umgingen und den Weg zur NS-Diktatur beschleunigten.
Gerade diese Argumentation ist größtenteils Humbug. Die extremen Parteien, die demokratische Regierungsmehrheiten unmöglich machten – NSDAP und DNVP auf der rechten, KPD auf der linken Seite –, wären in diesen Jahren alle eben nicht an einer Fünfprozenthürde gescheitert. Ihr hoher Stimmenanteil war das Problem, und als Grundlage dafür auch eine völlig andere politische Kultur als im heutigen Deutschland.
Die Weimar-Keule erscheint über 70 Jahre nach der ersten Bundestagswahl ziemlich überkommen. "Die Bundesrepublik Deutschland hat sich", schrieb 2013 der Verfassungsrechtler Ulrich Battis, "als ein stabiles Gemeinwesen erwiesen, das der Fünf-Prozent-Klausel nicht mehr bedarf". Battis plädierte damals nicht für eine Abschaffung, sondern für eine Dreiprozenthürde, und auf Kontext-Anfrage sieht er das auch heute noch so: "Die drei Prozent sind eine Sicherung, dass es nicht eine völlige Zersplitterung gibt. Denn Wahlen haben ja nicht nur die Funktion, dass das Volk seine Stimme abgeben kann, sondern Wahlen sollen auch eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament zustande bringen."
Wie Battis favorisieren etwa auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier oder der ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele eine Dreiprozenthürde, wie es sie etwa in Italien, Griechenland und Spanien gibt (wobei die unterschiedlichen Wahlsysteme die Vergleichbarkeit erschweren).
Warum nicht ganz ohne?
Selbst die braucht es nicht, findet etwa der Journalist Vinzenz Greiner. Das parlamentarische System in Deutschland sei stabil und bleibe auch dann entscheidungsfähig, "wenn als 'Splitterparteien' verunglimpfte Kleinparteien ins Parlament einziehen." Länder ganz ohne Sperrklausel wie Finnland oder Portugal würden das Argument der Destabilisierung als Mythos entlarven. Mehr Parteien würden dem Bundestag gut tun, findet Greiner: "Allianzen könnten schneller wechseln – je nach Sachfrage. Die großen Oppositionsfraktionen und Abgeordnete der Regierungskoalition wären somit gezwungen, weniger verbissen-ideologisch abzustimmen, sondern mit mehr Kompromissbereitschaft um Mehrheiten zu werben."
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Marlies Beitz
am 21.03.2021