Am 27. Oktober 1971 verabschiedete die FDP auf ihrem Bundesparteitag in Freiburg im Breisgau ein neues Grundsatzprogramm, die sogenannten Freiburger Thesen. Deren vierter, umweltpolitischer Teil wird folgendermaßen eingeführt: "Leitgedanke ist dabei der Schutz der Würde des Menschen. Das heißt: Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand. Umweltpolitik ist Gesellschaftspolitik und geht jeden Bürger an. [...] Umweltpolitik verlangt Umdenken und Nachdenken. Liberales Ziel ist es, jedem Bürger die für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden notwendige Qualität seiner Umgebung zu sichern. Deshalb muss Umweltpolitik den gleichen Rang erhalten wie soziale Sicherung, Bildungspolitik oder Landesverteidigung."
Als These 1 wird dann gefordert: "Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht." Die wird noch präzisiert: "Ebenso wie Brandstiftung gehört Umweltschädigung zu den gemeingefährlichen Straftatbeständen. [...] Gewinnsucht auf Kosten der Umwelt muss hart bestraft werden. Verhängte Geldstrafen müssen auf jeden Fall über dem Gewinn liegen, der durch Unterlassung von Umweltschutzmaßnahmen erzielt wurde." Und auch die weiteren Thesen dieses Programmteils haben es in sich; so bestimmt etwa These 4: "Die Kosten der Umweltbelastung werden grundsätzlich nach dem Verursacherprinzip aufgebracht. Es gilt Gefährdungshaftung. Die Kosten des Umweltschutzes sind Kosten der Produktion."
Zwar wurden die Freiburger Thesen mit überwältigender Mehrheit auf dem Parteitag der FDP angenommen und waren ein wichtiger Baustein im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1972 – immerhin konnte die FDP gegenüber dem Wahlergebnis von 1969 über drei Prozentpunkte hinzugewinnen und ganz neue Wählergruppen für sich mobilisieren. Dennoch gab es weder bei der FDP noch bei der bestätigten sozialliberalen Bundesregierung auch nur ansatzweise Versuche, diese Programmatik in Regierungshandeln umzusetzen. Spätestens mit dem Tod von FDP-Generalsekretär Karl Hermann Flach 1973, der Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten 1974 sowie der Ernennung von Hans-Dietrich Genscher zum Vorsitzenden der FDP, zum stellvertretenden Bundeskanzler sowie zum Außenminister gab die FDP jede Programmatik auf und verfiel in ihren alten Fehler, nur noch kurzfristig und taktisch orientiert um Wählerstimmen zu buhlen.
Nach 1972 wollte auch die SPD kaum "mehr Demokratie wagen"
Doch nicht nur die FDP ließ eine Lücke, sondern auch die SPD: Sie enttäuschte zum einen weite Teile der außerparlamentarischen Opposition mit der Einführung des "Radikalenerlasses" und nach der Bundestagswahl 1972 mit der faktischen Aufgabe der einst versprochenen Demokratisierungsbemühungen. Doch in der Wirkung noch gravierender war der schon unter Kanzler Willy Brandt beginnende und dann unter seinem Nachfolger Helmut Schmidt nach 1974 absolut dominierende Prozess der Umstellung des Regierungshandelns auf routinierte Planung, Expertokratie und Verwaltung. Die Emphase des Brandt-Satzes "Wir wollen mehr Demokratie wagen" wurde von Schmidt nüchtern und zynisch übersetzt in: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen".
2 Kommentare verfügbar
Waldemar Grytz
am 23.10.2019Nach den Bomben auf Belgrad verlies sogar Gründungsmitglied Willi Hoss seine nun oliv-grünliche Partei.