KONTEXT:Wochenzeitung
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Vom Besetzen einer Lücke

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40 Jahre Die Grünen: Dass sich die Partei Ende der 1970er als neue politische Kraft etablieren konnte, hing stark mit den Leerstellen zusammen, die die bestehenden Parteien damals ließen. Und ihre Zukunft hängt wesentlich davon ab, wie sehr sie die Fehler insbesondere der FDP umschifft, Machterhalt vor Programmatik zu stellen.

Am 27. Oktober 1971 verabschiedete die FDP auf ihrem Bundesparteitag in Freiburg im Breisgau ein neues Grundsatzprogramm, die sogenannten Freiburger Thesen. Deren vierter, umweltpolitischer Teil wird folgendermaßen eingeführt: "Leitgedanke ist dabei der Schutz der Würde des Menschen. Das heißt: Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand. Umweltpolitik ist Gesellschaftspolitik und geht jeden Bürger an. [...] Umweltpolitik verlangt Umdenken und Nachdenken. Liberales Ziel ist es, jedem Bürger die für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden notwendige Qualität seiner Umgebung zu sichern. Deshalb muss Umweltpolitik den gleichen Rang erhalten wie soziale Sicherung, Bildungspolitik oder Landesverteidigung."

Als These 1 wird dann gefordert: "Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht." Die wird noch präzisiert: "Ebenso wie Brandstiftung gehört Umweltschädigung zu den gemeingefährlichen Straftatbeständen. [...] Gewinnsucht auf Kosten der Umwelt muss hart bestraft werden. Verhängte Geldstrafen müssen auf jeden Fall über dem Gewinn liegen, der durch Unterlassung von Umweltschutzmaßnahmen erzielt wurde." Und auch die weiteren Thesen dieses Programmteils haben es in sich; so bestimmt etwa These 4: "Die Kosten der Umweltbelastung werden grundsätzlich nach dem Verursacherprinzip aufgebracht. Es gilt Gefährdungshaftung. Die Kosten des Umweltschutzes sind Kosten der Produktion."

Zwar wurden die Freiburger Thesen mit überwältigender Mehrheit auf dem Parteitag der FDP angenommen und waren ein wichtiger Baustein im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1972 – immerhin konnte die FDP gegenüber dem Wahlergebnis von 1969 über drei Prozentpunkte hinzugewinnen und ganz neue Wählergruppen für sich mobilisieren. Dennoch gab es weder bei der FDP noch bei der bestätigten sozialliberalen Bundesregierung auch nur ansatzweise Versuche, diese Programmatik in Regierungshandeln umzusetzen. Spätestens mit dem Tod von FDP-Generalsekretär Karl Hermann Flach 1973, der Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten 1974 sowie der Ernennung von Hans-Dietrich Genscher zum Vorsitzenden der FDP, zum stellvertretenden Bundeskanzler sowie zum Außenminister gab die FDP jede Programmatik auf und verfiel in ihren alten Fehler, nur noch kurzfristig und taktisch orientiert um Wählerstimmen zu buhlen.

Nach 1972 wollte auch die SPD kaum "mehr Demokratie wagen"

Doch nicht nur die FDP ließ eine Lücke, sondern auch die SPD: Sie enttäuschte zum einen weite Teile der außerparlamentarischen Opposition mit der Einführung des "Radikalenerlasses" und nach der Bundestagswahl 1972 mit der faktischen Aufgabe der einst versprochenen Demokratisierungsbemühungen. Doch in der Wirkung noch gravierender war der schon unter Kanzler Willy Brandt beginnende und dann unter seinem Nachfolger Helmut Schmidt nach 1974 absolut dominierende Prozess der Umstellung des Regierungshandelns auf routinierte Planung, Expertokratie und Verwaltung. Die Emphase des Brandt-Satzes "Wir wollen mehr Demokratie wagen" wurde von Schmidt nüchtern und zynisch übersetzt in: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen".

Doch nicht nur innenpolitisch veränderten sich in den 1970er Jahren die Konstellationen gewaltig, sondern auch außenpolitisch. 1979 wurde Margaret Thatcher Premierministerin von Großbritannien und es begann der Siegeszug des Neoliberalismus, weiter forciert mit der Wahl Ronald Reagans zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 1980. Überhaupt hatte es das Jahr 1979 in sich: Die "Islamische Revolution" führte im Iran zwar zum Sturz von Schah Pahlavi, brachte aber letztendlich dann im selben Jahr Ajatollah Chomeini an die Macht. Truppen der Sowjetunion intervenierten in Afghanistan und setzten damit einen Krieg mit in Gang, der bis heute anhält. Und schließlich erfolgte am 12. Dezember der sogenannte NATO-Doppelbeschluss, also die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik als Antwort auf die Stationierung sowjetischer Raketen in der DDR.

Schon im Vorfeld dieses Beschlusses kam es zu großen und heftigen Bürgerprotesten und Demonstrationen. Aus der Perspektive der Bundesregierung, aber auch aller anderen Regierungen westlicher Industriestaaten, wurden solche Proteste – zusammen mit den sich verstärkenden Protesten gegen Atomkraftwerke und vielen anderen lokalen und regionalen Bewegungen gegen umweltgefährdende Projekte – gedeutet als Zeichen einer zunehmenden "Unregierbarkeit" der Staatsbürger, die ihren Ausdruck auch in stark sinkenden Wahlbeteiligungen fand. Nahmen in der Bundesrepublik bis Mitte der 1970er Jahre 85 Prozent der Wahlberechtigten und mehr ihr Wahlrecht wahr, so sank die Wahlbeteiligung ab auf 75 Prozent und darunter ab. "Politikverdrossenheit", so lautete die Interpretation aus Politiker-Perspektive.

Wie abgehoben und die in der Bürgerschaft stattfindenden Prozesse verkennend solche Diagnosen damals schon waren, war eigentlich unübersehbar: Angesichts der mit Beginn der 1970er Jahre sprunghaft ansteigenden Bürgerinitiativen und Bürgerprotesten, deren überregional hinausgreifenden Vernetzungen und der sich aus solchen Bürgerbewegungen herausbildenden "Gegen-Experten", die zunehmend problemloser offizielle Expertisen fach- und sachgerecht kritisieren konnten. Das, was dann als "neue soziale Bewegungen" bezeichnet wurde, war doch genau das, was mit "mehr Demokratie wagen" und dem "mündigen Bürger" auch von der sozialliberalen Koalition gefordert worden war – und was der Soziologe und FDP-Vordenker Ralf Dahrendorf als das eigentlich Selbstverständliche in einer demokratischen Bürgergesellschaft beschrieben hatte.

Politiker-Wunsch: der ignorante, nicht der mündige Bürger

Aber es waren nur ganz wenige Jahre, in denen dieses laut Dahrendorf Selbstverständliche, die Erweiterung der Möglichkeiten der Teilhabe der Bürger und Bürgerinnen an den Entscheidungen zur Ausgestaltung ihres Gemeinwesens, tatsächlich selbstverständlich gewesen ist; zumindest, was die Selbstdarstellung der sozialliberalen Koalition nach außen betraf. In ihrem eigenen Selbstverständnis galt dagegen wohl schon vor der Kanzlerschaft Schmidts für viele Politiker der SPD und FDP das, was der Soziologe Niklas Luhmann in seinem mehrfach aufgelegten Buch "Legitimation durch Verfahren" von 1969 mit dem ihm eigenen Zynismus des Verwaltungswissenschaftlers beschrieb: "Der Informationsstand des Publikums und damit die Durchbildung der Erwartungen in Angelegenheiten der Gesetzgebung [ist] äußerst gering [...] Das Angebot an Informationen ist so bunt und so vielseitig, dass die Wahrscheinlichkeit gering wird, dass der einzelne seine knappe Aufmerksamkeit ausgerechnet Gesetzen zuwendet. Man liest keine Gesetzesblätter. Wer von klassischen Vorstellungen über öffentliche Meinung und Gesetzgebung ausgeht, wird das bedauern. Ignoranz und Apathie [der Bürger und Bürgerinnen, M.W.] sind jedoch die wichtigsten Vorbedingungen für die Variabilität des Rechts, und insofern funktional für das System." Die ignoranten und in Apathie verharrenden Bürger und Bürgerinnen als Wunschbild der herrschenden Politiker, weil nur so das System funktionieren könne.

Doch dieses Wunschbild deckte sich im Laufe der 1970er Jahre immer weniger mit der Vielfalt der Interventionen von Bürgerinnen und Bürgern in und gegen staatliche Planungsentscheidungen. Die Lücke zwischen dem Selbstverständnis der Politiker und dem ganz anderen Selbstverständnis der schon längst nicht mehr apathischen und ignoranten Bürgerschaft wurde zunehmend größer. Und weil die Interessen der Bürgerschaft nicht mehr zureichend in den Parteien und staatlichen Institutionen repräsentiert wurden, war es aus Sicht der in den vielen sozialen Bewegungen Aktiven naheliegend, die Vernetzungsprozesse in und zwischen den Bewegungen voranzutreiben in Richtung der Gründung einer eigenen Partei.

Unter verschiedenen Bezeichnungen traten ab 1976 Vertreter der neuen sozialen Bewegungen bei kommunalen Wahlen als Parteien an, etwa die "Grüne Liste Umweltschutz" in Niedersachsen. Und am 30. September 1979 wurde in Baden-Württemberg der erste Landesverband der Grünen gegründet. Einige Monate später, am 12. und 13. Januar 1980, erfolgte dann schon die Gründung als bundesweit agierende Partei. Erste Wahlerfolge erzielte die Partei bei den Landtagswahlen 1981 in Berlin sowie 1982 bei den Wahlen in Hamburg, Hessen und Niedersachsen. Und bei der Bundestagswahl 1983 gelang der Einzug in den Deutschen Bundestag mit 5,6 Prozent.

CDU, SPD und FDP reagierten in immer noch völliger Verkennung der Wirkungsmacht der sich entwickelnden Bürgergesellschaft auf diesen Konkurrenten mit der absurden Behauptung, es gäbe in der Bundesrepublik ein "Drei-Parteien-System", sodass von der Grundordnung her eine vierte Partei schlichtweg nicht zulässig sei. Ralf Dahrendorf hingegen, der einer sozialliberalen Partei ein Wählerpotential von 20 Prozent zutraute, verknüpfte den Erfolg umweltpolitischer Maßnahmen, die von den neuen sozialen Bewegungen gefordert wurden, mit der Notwendigkeit der Einführung eines lohnarbeitsunabhängigen Grundeinkommens für alle Bürgerinnen und Bürger. In seinen Worten: Der Ausstieg aus der bisherigen Wirtschaftsweise mit ihren katastrophalen ökologischen Folgen könne nur dann gelingen, wenn der Umbau des Gemeinwesens von einer auf Lohnarbeit basierenden Integration hin zu einer "Tätigkeitsgesellschaft" erfolge, in der der Verlust des Arbeitsplatzes nicht zu sozialem Absturz und Diskriminierung führt, sondern durch ein existenzsicherndes Grundeinkommen aufgefangen wird. Noch heute bekanntlich eine einzulösende Forderung.

Gretchenfrage Machterhalt oder Programmatik – siehe Agenda 2010

Die Zukunft der Grünen wird sich wohl daran entscheiden, ob es dieser Partei gelingt, die Vision einer solchen Tätigkeitsgesellschaft weiter programmatisch auszugestalten. Und ob es ihr gelingt, die notwendigen Schritte einer sozial-ökologischen Transformation dort einzuleiten und durchzusetzen, wo sie in Regierungsverantwortung ist – sei es als Koalitionspartner, über das Amt des Ministerpräsidenten oder vielleicht sogar einer möglichen Bundeskanzlerin oder eines Bundeskanzlers. Oder ob sie, in den Fehler insbesondere der FDP verfallend, um des bloßen Machterhalts willen auf sämtliche Programmatik verzichtet.

Es ist in diesem Zusammenhang notwendig, daran zu erinnern, dass die Agenda 2010 ja nicht einfach nur und ausschließlich von der SPD beschlossen und durchgesetzt wurde, sondern dass dies eine von der Koalition von SPD und Grünen gemeinsam getragene Entscheidung war, die Grünen also für die sozialen Folgen dieser Entscheidung gleichermaßen verantwortlich sind. Die Kernpunkte der Agenda 2010 sind in wesentlichen Teilen nichts anderes als die Kernpunkte des sogenannten "Lambsdorff-Papiers" von 1982, das das Ende der sozialliberalen Koalition einläutete. Bundeskanzler Helmut Schmidt und die SPD waren damals nicht bereit, sich auf die Forderungen des FDP-Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff nach Beschneidung und Abbau von Sozialstaatsleistungen, Deregulierungen nach Innen und nach Außen sowie auf austeritätspolitische Maßnahmen einzulassen, sondern hatten an ihrer Programmatik festhaltend den Bruch der Koalition hingenommen. Rund 20 Jahre später haben Joschka Fischer und die Grünen aber ausschließlich aus Gründen des Machterhalts mit Gerhard Schröder und der SPD die Agenda 2010 akzeptiert. Daran erinnernd sollte das gegenwärtige politische Handeln der Grünen beurteilt werden.


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2 Kommentare verfügbar

  • Waldemar Grytz
    am 23.10.2019
    Antworten
    Und wenn es "nur" die Agenda 2010 gewesen wäre!
    Nach den Bomben auf Belgrad verlies sogar Gründungsmitglied Willi Hoss seine nun oliv-grünliche Partei.
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