Ende der Sechziger Jahre hat Georg Baselitz eines seiner berühmten Frakturbilder gemalt. Der sinnierende Kerl, zergliedert in Fetzen und wiederzusammengesetzt, trägt den Titel "Ein Grüner zerrissen". Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat bei seinem Vortrag in der Stuttgarter Staatsgalerie den Bogen von diesem Werk zu Kretschmann gespannt. Und liegt damit wohl richtiger als er ahnt. Später geht es auf dem Podium um die spannende Frage, wieviel Radikalität anno 2018 nottut: im Kampf gegen den Populismus und für die Idee Europa, gegen die Aufheizung des Planeten und für sozialen Zusammenhalt.
"Wir müssen eher noch radikaler werden, weil die Zukunftsfragen so radikal sind. Radikaler ist das neue Realistische", sagt Habeck. Mit Bernd Ulrich, dem stellvertretenden Chefredakteur der "Zeit", hat er sogar einen Sekundanten an seiner Seite. Radikalität habe nicht – wie der Ministerpräsident unterstellt – "den Zweck, die Leute aufzuscheuchen". Sondern solle "eine Symmetrie herstellen zwischen der Größe der Probleme und der Größe der Reaktionen darauf". Da greift der Jubilar nach dem Mikrofon, hält eine kurze zornige Gegenrede. Die Menschen, meint er, müssten immer "das Gefühl haben, dass wir über ein und dieselbe Welt reden". Radikalen Ideen bringt er eine abgrundtiefe Skepsis entgegen, Raum will er ihnen ohnehin nur geben nach bestandenem Relevanztest.
Für "Kursbuch"-Mitherausgeber Armin Nassehi, Soziologieprofessor aus München, kommt sehr viel aufs Vertrauen an. Wie ist die Komplexität der Gesellschaft denen überzeugend zu erklären, die sich gar nicht mehr als Teil dieser Gesellschaft verstehen? "Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einfachen Botschaften und schwierigen Situationen", konstatiert der gebürtige Tübinger. Bernd Ulrich, dem in früheren Jahren solche Tonlagen eher fremd waren, erstaunt mit einer vehementen Kritik am "Phänomen der Mitte-Politik". Es bestehe darin, "dass auf Probleme mit mittleren Lösungen reagiert wird, die ihrerseits später und an anderer Stelle viel größere Probleme schaffen".
Radikalrealo Habeck bringt Kretschmann in Rage
Einsichten, die dringend vertieft werden und in politische Praxis einsickern müssten. Vom Jubilar ist eher weniger zu erwarten. Warum, wird später draußen im Foyer heftig debattiert, nutzt er sein Ansehen und seine politische Erfahrung nicht, um genau diese Zusammenhänge zu problematisieren? Beim bedrohlichen Insektensterben zum Beispiel oder, eklatanter noch, im Umgang mit der Autoindustrie? Einer der alten Weggefährten kommt auf Stuttgart 21 zu sprechen und Kretschmanns Versprechen aus seinem ersten Regierungsjahr, nicht zuzulassen, dass irgendwann mitten in der Stadt ein Riesenloch klafft und niemand diese Zeche zahlen will.
Solchen Fragen nach dem Bedarf an Mut zur Radikalität nimmt der Hausherr der Villa Reitzenstein seit Jahren den Wind aus den Segeln mit Verweisen auf die eigene Vergangenheit. Im katholischen Internat in Riedlingen, das er als "Albtraum" erlebt, war das Rebellische herangereift. Die Abschiedsrede am Sigmaringer Gymnasium war geschliffen und trug ihm einen Preis ein – und Ärger. Der Bundeswehrzeit in Ingolstadt kann er gar nichts Positives abgewinnen, aber der Hang zum Anti-Autoritären schwillt an. Nach einigem Hadern studiert er statt Germanistik Biologie und Chemie – und landet in Hohenheim beim maoistischen KBW. Über diese Zeit erzählt er, wie auf dem Geburtstags-Symposion, seit Jahr und Tag die immergleichen Geschichten, allen voran die von der Kommunistischen Volkszeitung, die er frühmorgens vor Esslinger Werkstoren verteilen und die ihm keiner abnehmen wollte.
Ritualisierte Anekdoten statt radikalem Denken
Es folgt rituell Ralf Dahrendorfs Bonmot, wonach ein Revolutionär in einer nicht-revolutionären Situation sich leicht lächerlich macht. So sollen existenzielle Gefahren und Defizite mit Anekdoten entsorgt werden, die zu trivial sind, als dass sie den Eskapismus des grünen Naturfreunds verschleiern könnten. Der Intellektuelle, der er auch ist, gibt sich zu leicht mit seinen bis zum Überdruss zitierten Leitsternen wie Hannah Arendt zufrieden. Und wenn kritischere Geister fehlendes Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des Politikbetriebs als zentrales Demokratieproblem benennen, dauert es nicht lange, bis er auf "meinen Herrn" zu sprechen kommt. Irgendwie, will er sich selbst und uns sagen, werde schon alles gutgehen mit Hilfe von ganz oben.
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Philippe Ressing
am 23.05.2018