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Ein Grüner zerrissen

Ein Grüner zerrissen
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Geistesgrößen unter sich: Aus Anlass seines Siebzigers lud Winfried Kretschmann zum Symposion "Demokratische Öffentlichkeit neu denken". Mit auf dem Podium saß sein Bundesvorsitzender Robert Habeck. Der ist gut 20 Jahre jünger, deutlich radikaler – und bringt den Jubilar in Rage.

Ende der Sechziger Jahre hat Georg Baselitz eines seiner berühmten Frakturbilder gemalt. Der sinnierende Kerl, zergliedert in Fetzen und wiederzusammengesetzt, trägt den Titel "Ein Grüner zerrissen". Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat bei seinem Vortrag in der Stuttgarter Staatsgalerie den Bogen von diesem Werk zu Kretschmann gespannt. Und liegt damit wohl richtiger als er ahnt. Später geht es auf dem Podium um die spannende Frage, wieviel Radikalität anno 2018 nottut: im Kampf gegen den Populismus und für die Idee Europa, gegen die Aufheizung des Planeten und für sozialen Zusammenhalt.

"Wir müssen eher noch radikaler werden, weil die Zukunftsfragen so radikal sind. Radikaler ist das neue Realistische", sagt Habeck. Mit Bernd Ulrich, dem stellvertretenden Chefredakteur der "Zeit", hat er sogar einen Sekundanten an seiner Seite. Radikalität habe nicht – wie der Ministerpräsident unterstellt – "den Zweck, die Leute aufzuscheuchen". Sondern solle "eine Symmetrie herstellen zwischen der Größe der Probleme und der Größe der Reaktionen darauf". Da greift der Jubilar nach dem Mikrofon, hält eine kurze zornige Gegenrede. Die Menschen, meint er, müssten immer "das Gefühl haben, dass wir über ein und dieselbe Welt reden". Radikalen Ideen bringt er eine abgrundtiefe Skepsis entgegen, Raum will er ihnen ohnehin nur geben nach bestandenem Relevanztest.

Für "Kursbuch"-Mitherausgeber Armin Nassehi, Soziologieprofessor aus München, kommt sehr viel aufs Vertrauen an. Wie ist die Komplexität der Gesellschaft denen überzeugend zu erklären, die sich gar nicht mehr als Teil dieser Gesellschaft verstehen? "Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einfachen Botschaften und schwierigen Situationen", konstatiert der gebürtige Tübinger. Bernd Ulrich, dem in früheren Jahren solche Tonlagen eher fremd waren, erstaunt mit einer vehementen Kritik am "Phänomen der Mitte-Politik". Es bestehe darin, "dass auf Probleme mit mittleren Lösungen reagiert wird, die ihrerseits später und an anderer Stelle viel größere Probleme schaffen".

Radikalrealo Habeck bringt Kretschmann in Rage

Einsichten, die dringend vertieft werden und in politische Praxis einsickern müssten. Vom Jubilar ist eher weniger zu erwarten. Warum, wird später draußen im Foyer heftig debattiert, nutzt er sein Ansehen und seine politische Erfahrung nicht, um genau diese Zusammenhänge zu problematisieren? Beim bedrohlichen Insektensterben zum Beispiel oder, eklatanter noch, im Umgang mit der Autoindustrie? Einer der alten Weggefährten kommt auf Stuttgart 21 zu sprechen und Kretschmanns Versprechen aus seinem ersten Regierungsjahr, nicht zuzulassen, dass irgendwann mitten in der Stadt ein Riesenloch klafft und niemand diese Zeche zahlen will.

Solchen Fragen nach dem Bedarf an Mut zur Radikalität nimmt der Hausherr der Villa Reitzenstein seit Jahren den Wind aus den Segeln mit Verweisen auf die eigene Vergangenheit. Im katholischen Internat in Riedlingen, das er als "Albtraum" erlebt, war das Rebellische herangereift. Die Abschiedsrede am Sigmaringer Gymnasium war geschliffen und trug ihm einen Preis ein – und Ärger. Der Bundeswehrzeit in Ingolstadt kann er gar nichts Positives abgewinnen, aber der Hang zum Anti-Autoritären schwillt an. Nach einigem Hadern studiert er statt Germanistik Biologie und Chemie – und landet in Hohenheim beim maoistischen KBW. Über diese Zeit erzählt er, wie auf dem Geburtstags-Symposion, seit Jahr und Tag die immergleichen Geschichten, allen voran die von der Kommunistischen Volkszeitung, die er frühmorgens vor Esslinger Werkstoren verteilen und die ihm keiner abnehmen wollte.

Ritualisierte Anekdoten statt radikalem Denken

Es folgt rituell Ralf Dahrendorfs Bonmot, wonach ein Revolutionär in einer nicht-revolutionären Situation sich leicht lächerlich macht. So sollen existenzielle Gefahren und Defizite mit Anekdoten entsorgt werden, die zu trivial sind, als dass sie den Eskapismus des grünen Naturfreunds verschleiern könnten. Der Intellektuelle, der er auch ist, gibt sich zu leicht mit seinen bis zum Überdruss zitierten Leitsternen wie Hannah Arendt zufrieden. Und wenn kritischere Geister fehlendes Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des Politikbetriebs als zentrales Demokratieproblem benennen, dauert es nicht lange, bis er auf "meinen Herrn" zu sprechen kommt. Irgendwie, will er sich selbst und uns sagen, werde schon alles gutgehen mit Hilfe von ganz oben.

Wer (noch) tiefer zu schürfen versucht, hebt Erstaunliches, das so gar nicht zur These passen will, Kretschmann reagiere derart ablehnend aufs Thema Radikalität, weil er selbst radikal war. Denn vieles ist in seiner Erinnerung an die Jahre im KBW eher pittoresk als revolutionär, anderes ausgesprochen positiv besetzt. Vom "Frohsinn" kann er erzählen, vom "Spaß, den wir hatten", er hat die Unbeschwertheit nicht vergessen. "Es war eine der schönsten Zeiten meines Lebens", sagt er einmal. Nächtelang habe man sich das Hirn zermartert, wie eine rote Fahne auf der Kuppel des Hohenheimer Schlosses gehisst werden könne, wozu es dann doch nie kam.

Vorlesungen und Veranstaltungen wurden gestört, andererseits verlor Kretschmann aber das Studium nie aus den Augen. Und der damalige Uni-Präsident George Turner wird sich nach dem Machtwechsel 2011 erinnern, wie er eine Gruppe von Störern einer Senatssitzung rund um den hochaufgeschlossenen Schlacks zu Sachverständigen erklärte, um Ausschreitungen, aber auch schwerwiegende Konsequenzen zu verhindern.

"Tief aber und radikal ist immer nur das Gute": Wer hat's gesagt?

Als der Lehrer 1979 die Grünen mitgründete, meinte er noch, "die Welt retten zu können und zu müssen". Dann erkennt er erstens, dass er das gar nicht kann, und dass zweitens erst einmal die Grünen gerettet werden müssen. 1984 wird deshalb im niedersächsischen Bahrendorf die parteiinterne Strömung der "Ökolibertären" aus der Taufe gehoben: "Ökologische Politik ist nur als freiheitliche möglich", steht in einer längeren Erklärung, die auch eine Kampfansage an die Parteilinke ist. Eine drohende Verbindung von Ökologie und Sozialismus wird von dieser Truppe herbeiphantasiert und als "gefährlich" eingestuft.

Bis drei Uhr morgens feiern ökolibertäre Weggefährten nach dem Symposion ihren erfolgsverwöhnten Publikumsliebling und die alten Visionen. Und rätseln, wieso sich die Grünen auf Bundesebene und in anderen Ländern nach dem ersten großen Wahlsieg hierzulande 2011 und erst recht nach dem zweiten 2016 nicht mehr an Baden-Württemberg orientieren. Der Stachel sitzt tief im Ego des Ministerpräsidenten, der so gerne in Dreiecken denkt. Das ausgewogene Zusammenspiel von Staat, Markt und BürgerInnengesellschaft nennt er sogar "magisch". Er rühmt die Möglichkeiten, die sich für Wertschöpfung und Wohlstand eröffnen, wenn Landwirtschaft, Naturschutz und Tourismus als Dreieck betrachtet werden. In Fragen der ideologischen Ausrichtung muss er über all die Jahre allerdings auch an einem gezimmert haben – als abschreckendes Beispiel: links, radikal, erfolglos.

Auf den Boden der Tatsachen mit eher mageren Wahlresultaten werden die Älteren und die Jüngeren, die Ikonen und die an der Basis die nächsten Wahlen bringen. Und die Debatte ums nächste Grundsatzprogramm. Anders als andere sind führende Köpfe immerhin bereit, Differenzen "im zivilisierten Streit", wie der Jubilar gern sagt, offen auszutragen. Demokratie, so die Hoffnung, kann so zumindest belebt werden. Als sich die Reihen langsam lichten in der Staatsgalerie, taucht die Idee auf, Kretschmann und Habeck als Kontrahenten könnten den Prozess befeuern mit einer Serie von am liebsten von hunderten ZuhörerInnen besuchten Duellen über neue Radikalität. Helfen könne da, sagt der eine zum anderen, Hannah Arendt, wer sonst. Habe die doch gelehrt: "Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal (...) Tief aber und radikal ist immer nur das Gute."


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2 Kommentare verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 23.05.2018
    Antworten
    Ach Herrjeh was'n Glück, dass ich das nicht erlebt habe. Also Bernd Ulrich - Ende der 1980er Mitarbeiter der Grünen im Bundestag für die Oberrealos - gibt jetzt den Kritiker der grünen Ranschmeiß-Politk an die Konservativen - köstlich. Wirkt so ein bisschen wie der Zauberlehrling, der erschrocken…
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