Am vergangenen Mittwoch im Landtag versagt Kretschmanns Stimme an entscheidender Stelle, als er seine Geheimniskrämerei vehement zu rechtfertigen versucht. Prompt weckt er Mitgefühl unter seinen Zuhörern: Mütterlich bedauert eine Besucherin, dass der "arme Mann" in diesem Zustand auch noch reden muss. Zugleich freut sie sich mächtig, dass sie überhaupt dabei sein durfte: Dieser Ministerpräsident ist nämlich "schon ein ganz besonderer".
Der Eckpfeiler einer Union mit Fahrrad und Genderstern
Jedenfalls einer, der neuerdings so Sätze sagt wie diesen: "Es gibt keine erfolgreiche Demokratie ohne Führung." Probleme damit, sich als Leader zu positionieren, hat der 68-Jährige nicht. Aus dem Sieg bei der Landtagswahl samt Platz eins im so lange CDU-dominierten Südwesten leitet er eine "neue Freiheit" ab, ein gewachsenes politisches Gewicht in alle Richtungen, ein neues Gewicht im "operativen Tagesgeschäft". Er erlaubt sich, "mauscheln" oder "dealen" als Selbstverständlichkeiten zu verkaufen. Und natürlich, sich in die Bundespolitik einzumischen. Also produziert er das, was seine Gegner innerhalb und außerhalb der Grünen von ihm erwarten, weil er, der Exmaoist, der inzwischen zigfach beschriebene Grüne, genauso gut ein moderner Schwarzer sein könnte, Eckpfeiler einer Union mit Fahrrad und Genderstern.
Zum neuen Stil gehört, eindringlich vor Rot-Rot-Grün zu warnen und Zensuren zu vergeben ("Die Linke lebt in der Welt einer Nationalökonomie, und außenpolitisch ist sie im Niemandsland"). Dazu gehören programmatische Alleingänge, wie gegen den grünen Gründungsmythos der Doppelspitze und damit die institutionalisierte Geschlechtergerechtigkeit zu wettern oder eine neue Vermögensteuer abzuwatschen. Überhaupt hält Kretschmann Gerechtigkeitsdebatten für überholt. "Es ist also erst die Tatsache der 'Knappheit' an Gütern, an Mitteln, an Kraft, an Zeit – auch an eigener Lebenszeit, die uns herausfordert, zwischen Alternativen zu entscheiden", predigt er auf dem Katholikentag im Mai in Leipzig, "wir müssen also wählen, unterscheiden, entscheiden, handeln – nur so wird aus Knappheit Freiheit geboren." Wohl dem, der hat. Und in dem Team, das sich seit seiner ersten Wahl vor fünf Jahren um ihn geschart hat, findet sich niemand, der ernsthaft dagegenhält. Zwar behagt keineswegs allen in der Stuttgarter Landtagsfraktion und im Landesverband der Partei, wie zuverlässig wirtschaftsliberal der Regierungschef zu reden und zu operieren pflegt. Aber niemand begehrt auf, abgesehen von der Grünen Jugend ("Jung.Grün.Stachelig."), die gelegentlich an das erinnert, wofür die Partei anno dazumal stand. An der Mehrzahl der Tage umgibt Winfried I. diese Aura der Erhabenheit, bis zu den ganz kleinen Gesten. Manchmal wird ihm in aller Öffentlichkeit sogar der Kaffee umgerührt.
Schweigen im Kabinett – wie im Trappistenkloster
Dabei gäbe es so manchen Grund, am Sockel zu rütteln. Neulinge am grün-schwarzen Kabinettstisch mochten ihren Augen und Ohren und ihrer (bisherigen) Einschätzung des Regierungschefs kaum trauen, als sie erlebten, dass wie in einem Trappistenkloster Schweigen oberstes Gebot ist bei den allwöchentlichen Sitzungen. Der Chef duldet da keine Debatten, und das war schon so zu grün-roten Zeiten. Ergebnis: Mund halten im Kabinett. "Ökologischer wäre", witzelt einer der Novizen mit Chauffeur, "wir würden gar nicht erst ins Staatsministerium fahren, sondern per SMS zustimmen." Dem Bild, das die Öffentlichkeit vom Regierungschef als "grübelnden Verantwortungsethiker" habe, der so gerne in langen Linien denke, stehe das Prozedere im Ministerrat offenkundig "diametral entgegen".
Die inszenierte Sprachlosigkeit soll zusammenschmieden – oder jedenfalls verhindern, dass den Beteiligten das ganze Unternehmen um die Ohren fliegt. Der Chef sieht sich in dieser Landesregierung zur Überwindung des Lagerdenkens verpflichtet, spricht gern von einer "Komplementärkoalition" zweier ungleicher Partner. Der Begriff waberte schon Ende des vergangenen Jahrzehnts durch die damals noch schwarz-grünen Strategiedebatten und stand für den Unterschied zu einem Zusammenschluss zweier Partner, die sich – wie damals Grüne und SPD – jedenfalls noch irgendwie und gefühlt demselben politischen Lager links der Mitte zuordneten. Grüne und CDU hingegen müssen nach einem stabilen gemeinsamen Fundament erst noch suchen. Die "Stuttgarter Zeitung" unterstellt Machterhaltungsmotive. "Die CDU, das ist die Brücke, die den Grünen das Wirtschaftsbürgertum erschließen soll", schreibt Redakteur Reiner Ruf, und dass "Kretschmann und seine Grünen die CDU nicht verdrängen können, ohne selbst ein Stück weit CDU zu werden".
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era
am 31.07.2016"Die Menschen" spielen schon wieder keine Rolle mehr (es sei denn, sie…