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Grüne im Sandwich

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Nach der Wahl ist vor der Wahl: In knapp sechs Monaten starten die Südwest-Grünen mit ihrer Kandidatennominierung in den Bundestagswahlkampf. Die ersten Regierungswochen zeigen, dass der für die Partei zum Akt auf dem Hochseil wird. Nicht nur in der Asylpolitik.

TTIP und CETA, die neuen sicheren Herkunftsländer, Digitalisierung, soziale Gerechtigkeit, Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer: Die Skala strittiger Themen, bei denen sich die Grünen auf Bundesebene anders positionieren als ihre baden-württembergischen Freunde, ist nach oben offen. Genauso wie das darin steckende Eskalationspotenzial. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er und der wahrscheinliche Spitzenkandidat Cem Özdemir politische Weggefährten seit mehr als 30 Jahren sind. Oder dass es beim Länderrat in Berlin kurz nach dem 13. März so viel herzlichen Applaus für den wiedergewählten Ministerpräsidenten gab wie selten zu vor, bei nur einem einzigen sarkastischen Zwischenruf. "Wir singen alle gemeinsam den Choral", karikierte der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer – noch ein langjähriger Weggefährte – die allgemeine Stimmungslage, "wir sind Kretschmann."

Sind die Grünen nicht. Erst recht nicht viele jener, die auf der Bundesebene das Sagen haben und alles daransetzen wollen, 2017 mehr Prozente zu holen als die mickrigen 8,4 vom September 2013. Jürgen Trittin jedenfalls hat sich bereits zu Wort gemeldet mit Sätzen wie diesen: "Nur mit einer klaren Haltung wird es gelingen, in einem künftigen Sechs-Parteien-Bundestag nicht sechste, sondern dritte Kraft zu sein." Oder: "Grüne dürfen sich deshalb nicht darauf beschränken, nach dem Motto 'Einer muss ja das Land regieren' ihrer Verantwortung nachzukommen." Das ließ sich als Seitenhieb auf Kretschmann verstehen, der genau mit ebendieser Formulierung seine Koalition mit der CDU legitimiert hatte.

In Berlin wird längst am ersten Entwurf eines Wahlprogramms geschrieben und im Netz heiß diskutiert, ob der vom derzeit beliebtesten Politiker der Republik für seine Partei angestrebte Platz in der Mitte tatsächlich der richtige ist. "Wir regieren konstruktiv mit, manche sagen auch angepasst", postet ein Mitglied auf der Facebook-Seite des hessischen Landesverbands, "und sind bei den Kommunalwahlen dennoch rasiert worden." Immerhin: Geräuschlosigkeit wird das Problem im Südwesten nicht sein, denn bei praktisch allen Themen, bei denen Kretschmanns "pragmatischer Humanismus" vielen in der Bundestagsfraktion eigentlich schon zu weit geht, drückt die CDU von der anderen, der rechten Seite dagegen.

Pragmatischer Humanismus vs. Rechtsdruck

Der neue Agrarminister Peter Hauk, der das Ressort zwischen 2005 und 2010 schon einmal führte, nutzte eines seiner allerersten Interviews, um sich als TTIP-Befürworter zu outen: "Wir sind im Südwesten die allergrößten Profiteure, denn wir haben die intensivsten Wirtschaftsbeziehungen zu den USA." Damit überdehnte der gelernte Forstwirt nicht nur den Koalitionsvertrag erheblich, denn die ungleichen Partner hatten sich dort auf die Kompromissformel geeinigt, dass "aus Landessicht Chancen und Risiken in der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) liegen". Er stellt sich auch diametral gegen den einschlägigen Bundesparteitagsbeschluss der Grünen, die "nach allem, was wir über TTIP und CETA wissen", die Abkommen als "nicht vereinbar mit unseren Standards" beurteilen und sich deshalb "weiterhin dagegen starkmachen". Und die Parlamentarier rund um Anton Hofreiter in Berlin verlangen eine Abkehr von der einseitig auf Liberalisierung ausgerichteten europäischen Handelspolitik, die sich bisher "negativ auf die Lebensbedingungen vieler Menschen hierzulande und in anderen Ländern auswirkt". Die derzeit verhandelten Abkommen sowohl mit entwickelten Ländern wie den USA und Kanada, aber auch mit Entwicklungsländern "gehen in eine völlig falsche Richtung". Es gehört nicht viel prophetische Gabe zu der Vermutung, dass sich solche Passagen im Programm zur Bundestagswahl wiederfinden und im Lager der Oberrealos aus dem Südwesten nur wenig Begeisterung auslösen werden.

Dennoch werden Gegensätze wie diese bestenfalls Auswirkungen auf die Atmosphäre in der Koalition und unter den Grünen in Stuttgart und Berlin haben. Schließlich sind die Mitsprachemöglichkeiten eng begrenzt. In der Flüchtlingspolitik dagegen sind schwerwiegende inhaltliche Probleme unvermeidlich. Aktuell muss sich die in mittlerweile zehn Ländern mitregierende Partei mit der Frage befassen, ob sie Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsländer ansehen soll. Erst Mitte Mai hatte die Bundestagsfraktion festgestellt, die drei Maghrebstaaten seien "nicht 'sicher'". Denn es werde "die Meinungs- und Pressefreiheit in unterschiedlichem Ausmaß, aber in vielen Fällen in schwerwiegender und unverhältnismäßiger Weise verletzt" ebenso wie das Folterverbot. Frauen würden nicht ausreichend vor Vergewaltigung geschützt und sexuelle Gewalt nicht ausreichend strafrechtlich verfolgt, in allen drei Ländern seien homosexuelle Handlungen strafrechtlich verboten. Die zweigrößte Oppositionsfraktion im Bundestag verweist darauf, dass eine Einstufung der drei Staaten deshalb "sowohl gegen Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs als auch des Bundesverfassungsgerichts" verstoßen würde.

Letzteres hatte der Stuttgarter Regierungschef bisher als zentrales Kriterium gegen ein Ja im Bundesrat ins Feld geführt. Gleich nach Amtsantritt griff er allerdings die nicht mehr ganz neue Realo-Idee auf, die Liste der sicheren Herkunftsländer einfach gänzlich abzuschaffen und stattdessen die Asylverfahren – beschleunigt oder nicht – an der Anerkennungsquote zu orientieren. "Was haben algerische Lesben davon?", postet eine Frau unter #Flüchtlinge. Die Frage blieb unbeantwortet, das Thema zeigt aber, dass die Spitze dem Wahlsieger von Baden-Württemberg beträchtliche Beinfreiheit einräumt. Als Parteifreund Robert Habeck, Umweltminister in Kiel, im vergangenen Sommer mit demselben Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen war, wurde er noch per Telefonkonferenz zur Räson gebracht und zog seinen Plan zurück.

Gretchenfrage sichere Herkunftsländer

Aktuell wird mit dem Kanzleramt an einem Kompromiss gebastelt, um die Zustimmung der Länder in der nächsten oder der übernächsten Bundesratssitzung sicherzustellen. Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand positioniert sich schon mal vorsorglich an der Seite seiner Berliner Parteifreunde: "Algerien, Tunesien und Marokko sind keine sicheren Herkunftsstaaten." Das Etikett widerspreche der traurigen Realität. Denn "wo Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität verfolgt, verurteilt und eingesperrt werden, kann von Sicherheit keine Rede sein". Und er legt sich offensiv mit dem Kretschmann-Stellvertreter Thomas Strobl an: Der grün-schwarze Koalitionsvertrag stelle keinen Blankoscheck aus, "wie ihn Herr Strobl herbeireden will". Der wiederum erinnert die Grünen an ihre Vertragstreue, will aber erkennbar nicht gleich den ersten Konflikt auf die Spitze treiben.

Weitere werden folgen. Mit der CDU ohnehin. Und intern erst recht. Die größten Kröten dürften sich die Grünen gegenseitig aber – wieder einmal – in der Steuerpolitik servieren. Nicht zuletzt deshalb, weil die Bundesspitze und viele Wahlkämpfer aus dem Jahr 2013 noch eine Rechnung offenhaben mit dem großen Triumphator aus dem Südwesten. Denn: Kretschmann hatte das detaillierte und bei der Verabschiedung als vorbildlich transparent gelobte Steuerkonzept zuerst mitgetragen, sich aber davon distanziert, als die Bundestagswahl verloren ging – nach Ansicht vieler Beobachter eben wegen der Steuerpläne und anderer Projekte, wie dem Veggie-Day, die von interessierten Kreisen attackiert wurden. Als Jürgen Trittin mit seinem Konzept keinen Erfolg gehabt habe, so griff FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke Kretschmann damals direkt an, "waren Sie plötzlich schon immer dagegen".

Was nicht ganz stimmt, weil der Gescholtene schon beim Kieler Parteitag im November 2011 vor "Steuererhöhungsorgien" gewarnt hatte. Jedenfalls hält er seither an seiner damaligen Kritik fest, die Grünen hätten 2013 in der Steuerpolitik "Maß und Mitte" verloren. Nicht von ungefähr kommt einer der ersten einschlägigen Zwischenrufe mit Blick auf 2017 ebenfalls aus dem Südwesten: Die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Kerstin Andreae, riet ausgerechnet im Interview mit dem "Handelsblatt" von einem Festhalten an der Forderung nach einer Vermögenssteuer ab. Man dürfe zwar "nicht die Augen davor verschließen, dass wenige viel haben und sehr viele wenig" und dass "unser Gemeinwesen gerecht finanziert werden muss". Bei der Vermögenssteuer jedoch sei "Vorsicht geboten", so das klassisch neoliberale Argument der Freiburgerin, weil Unternehmen mit Abwanderung reagieren könnten.

Andreae grätscht damit sogar in die eigene Fraktion, denn deren dem linken Flügel angehörender Chef Hofreiter wird nicht müde, daran zu erinnern, dass von Parteitagen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen die Besteuerung sehr großer Vermögen bereits beschlossen ist. Danach sollen "keine Familienunternehmen getroffen werden, nicht die Mittelschicht und nicht einmal die obersten zehn Prozent dieser Gesellschaft, sondern nur ein Prozent, und das wäre eine Steuer, die allein auf das Vermögen der Superreichen zielt". Und die Bundespartei verweist auf ihre Steuerpläne, nach denen "der Steuerbeitrag für 90 Prozent der EinkommenssteuerzahlerInnen sinkt". Für alle Haushalte mit einem Jahresbruttoeinkommen unter 60 000 Euro werde die Steuerlast verringert, die einkommensstärksten zehn Prozent der Haushalte würden allerdings einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten: "Wir wollen den Steuersatz ab einem zu versteuernden Einkommen von 60 000 Euro auf 45 Prozent und ab 80 000 Euro auf 49 Prozent anheben – zugunsten derer, die weniger zur Verfügung haben."

Superreiche sollen blechen

Inzwischen erfolgsverwöhnte Baden-Württemberger kriegen Bauchgrimmen allein bei der Vorstellung, dass solche Sätze mit dieser Häufung der Reizvokabel Steuer demnächst wieder in einem Bundestagswahlprogramm stehen. Kretschmann selber will nicht mehr und nicht weniger als ebenjene neue Verortung: Die Partei verstehe sich als eine der linken Mitte, "aber ich bin jemand, der sie ganz in die Mitte ziehen möchte". Als "Orientierungspartei", mit einem erweiterten Markenkern, immer "das Ganze in den Blick nehmend und in der Balance haltend, statt nur Teile der Gesellschaft zu vertreten". Kein Wunder, dass sich da Widerstand regt. Trittin holt besonders weit aus und kontert mit der Geschichte. Nach der Gründung 1979 sei viele Jahre lang gestritten worden für bestimmte Themen, als die noch "marginalisierte, belächelte Minderheitenpositionen waren". So hätten die Grünen – gerade als Partei der linken Mitte – Politik für eine breite Mehrheit der Gesellschaft gemacht. Und der frühere Bundesumweltminister aus Niedersachsen macht noch einen anderen großen Topf auf, der den Wahlkampf ohne Zweifel mitbestimmen wird, nämlich den Umgang mit der AfD: "Wenn alle nur Mitte sein wollen, wächst der rechte Rand."


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