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SPD und Grüne im Bundestagswahlkampf

Der weiße Elefant im Raum

SPD und Grüne im Bundestagswahlkampf: Der weiße Elefant im Raum
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Nach der Bundestagswahl am 23. Februar scheinen aktuell nur eine schwarz-rote oder eine schwarz-grüne Koalition wahrscheinlich. Den Wahlkampf von SPD und Grünen hat das schon vor der gemeinsamen Abstimmung von CDU und AfD geprägt – und danach ist es nicht einfacher geworden. Eindrücke aus Stuttgart und Böblingen.

Saskia Esken trägt einen, na klar, knallroten Anorak, aber der reicht offenbar nicht. "Es isch kalt", sagt die SPD-Vorsitzende, und es ist wirklich ein eisiger Wind, der über den Mailänder Platz im Stuttgarter Europaviertel pfeift. Dorthin haben Lucia Schanbacher und Dietmar Bulat, die beiden Stuttgarter SPD-Kandidierenden, zu "Punsch und Politik" mit ihrer Parteichefin eingeladen. Der Punsch ist Kinderpunsch, aber heiß und ebenfalls rot. Es ist der Abend des 21. Januar, noch ahnt keiner, dass Friedrich Merz gut eine Woche später im Bundestag durch eine Abstimmung mit AfD-Unterstützung die Brandmauer nach rechts de facto einreißen und dem Wahlkampf eine neue Dynamik und Richtung geben wird.

Zwei, drei Dutzend Interessierte sind an den Stand gekommen, diskutieren, machen Selfies, die meisten sind SPD-Mitglieder. Auch die drei jungen Menschen, die etwas am Rand stehen. Alle drei sind vor Jahren aus Syrien gekommen, ihr Lebensmittelpunkt ist jetzt in Deutschland. Nouran, 18 Jahre alt, geht noch zur Schule, sie will erst den Hauptschulabschluss machen, dann Realschule, dann Gymnasium, wenn's klappt, Medizin studieren. Oder Polizistin werden. Nouran ist seit etwa einem Jahr in der SPD, weil die Partei für Frieden sei, weil sie frei von Rassismus sei, weil sie Menschen nicht danach beurteile, wo sie herkämen. "Sie sagen nicht: Du bist Ausländer, geh!"

An diesem Dienstag am Stand geht es um soziale Gerechtigkeit. "Ich sag es ganz klar: Wir müssen die großen Vermögen höher besteuern", sagt Esken, es könne nicht sein, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander gehe. Und mehrmals zitiert sie Juso-Chef Philipp Türmer: "Ich will aus Milliardären Millionäre machen!"

Dass die Vorschläge der SPD, wie die der Grünen, des BSW und, am deutlichsten, der Linken tatsächlich Topverdiener stärker zur Kasse bitten und Gering- und Mittelverdiener entlasten würden, während es bei CDU/CSU, FDP und AfD umgekehrt ist, hat kürzlich das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ausgerechnet. Ein junger Mann, Polier auf der S-21-Baustelle, seit zwei Jahren in der SPD, hat große Zweifel, ob das auch wahrgenommen wird, ob die Partei das gut genug rüberbringt. "Das kann man noch besser visualisieren", sagt er zu Esken. Die zeigt ihm auf dem Handy eine Grafik des ZEW, er ist nicht zufrieden: "Das ist zu viel. Einfach nur ein Tortendiagramm machen." "Verstehe", sagt Esken.

"Das würde die SPD zerreißen"

Ob all die Pläne mit der CDU überhaupt gelingen könnten, daran hat ein grauhaariger Mann, "passives SPD-Mitglied", große Zweifel. Die SPD müsse viel deutlicher machen, sagt er, wie groß der Unterschied zwischen der Merz-Linnemann-CDU und der Merkel-CDU sei, "das sind Welten".  Eine Koalition mit dieser CDU, "das würde die SPD schlimmer zerreißen als die Agenda 2010". "Der weiße Elefant im Raum", sagt er zu Esken, "das ist die große Koalition unter Führung von Friedrich Merz". "Nee, unter der Führung von Olaf Scholz", gibt Esken zurück. Das überzeugt den Mann nicht, er insistiert, die SPD müsse klarer machen, dass man sie wählen müsse, wenn man soziale Politik wolle. "Das sagen wir jeden Tag", antwortet Esken und fügt an: "Die zentrale Frage dieses Wahlkampfs ist: Wer zahlt die Zeche?" Der passive Genosse zweifelt sichtlich weiter.

An Zuversicht mangelt es dagegen Lucia Schanbacher nicht, sie trägt nonstop ein breites, ansteckendes Lächeln im Gesicht. Auch wenn dieser komprimierte Wahlkampf "schon irre" sei. Jeden Tag drei bis vier Termine, dazu ist die zweifache Mutter seit Anfang Januar neben ihrem Gemeinderatssitz in Stuttgart auch Bundestagsabgeordnete, nachgerückt für Takis Mehmet Ali. Der aktuelle Wahlkampf, sagt Schanbacher, sei ein ganz anderer als der 2021. Denn am 23. Februar gehe es auch um die Entscheidung: "Wie wollen wir unsere Gesellschaft haben? Öffnen wir Rechtspopulist:innen die Tür oder nicht?" Zu diesem Zeitpunkt, am Stand auf dem Mailänder Platz, ist noch nicht klar, wie aktuell diese Frage wenig später sein wird.

Im Gespräch kurz nach dem Termin mit Esken betont Schanbacher, dass Gerechtigkeit "das große Thema" des Wahlkampfs sei. Bei der Nachfrage drei Wochen später, ob sie das immer noch so wahrnehme, zögert sie einen Augenblick mit der Antwort. Ja, Migration treibe die Menschen wirklich um, das erlebe sie auch bei ihren Terminen. "Aber wenn man mit den Leuten dann ins Gespräch geht, kommen schon wieder die Punkte, bei denen es um Gerechtigkeit geht: zum Beispiel bezahlbares Wohnen, ausreichend Kita-Plätze." Doch das Neue in der Diskussion seit dem 29. Januar sei, "dass den Leuten leicht gemacht wird, zu sagen: 'Die sind Schuld'".

Würgereiz bei Koalitionsgedanken

Die Verantwortung für soziale Probleme, die schon vorher Thema waren, würde nun viel häufiger der Migration zugeschoben, "weil es die Komplexität reduziert". Jetzt gebe es eine simple Erklärung, einen Sündenbock für alles, "und viele nehmen dieses Narrativ bereitwillig auf". Es sei "erschreckend", sagt die SPD-Kandidatin, wie leicht solche einfachen Antworten verfangen. "Das Schlimme ist, dass die eigentlichen Themen gar nicht mehr angesprochen werden." Sie habe auf mehreren Podien zur Bundestagswahl gesessen, und die CDU-Kolleg:innen würden bei Fragen zu nahezu allen Themen immer wieder sagen: Man müsse erst einmal die illegale Migration in den Griff kriegen. "Die haben gar keine anderen Lösungen mehr", empört sich Schanbacher. Ist die Tür zu den Rechtspopulisten nun offen? Merz habe bewiesen, dass genau das eine große Frage dieses Wahlkampfs sei, sagt Schanbacher. Und dass man ihm nicht trauen könne.

Privat lebt Schanbacher in einer rot-grünen Koalition, ihr Mann Fabian Reger sitzt im Stuttgarter Gemeinderat für die Grünen. Auf Bundesebene eine nach den aktuellen Umfragewerten recht unwahrscheinliche Konstellation – da scheint eine Regierungsbeteiligung für die Sozialdemokraten nur zusammen mit der Union möglich. Eine Aussicht, die die Bundestagsabgeordnete und ehemalige baden-württembergische SPD-Chefin Leni Breymaier gegenüber Kontext so kommentierte: "Beim Gedanken an eine Koalition mit Merz bekomme ich Würgereiz." Auf das Zitat angesprochen, lacht Schanbacher, aber nur kurz. Man müsse davon ausgehen, dass Koalitionsverhandlungen sehr, sehr schwierig würden, "da dürfen wir uns keine Illusion machen". Immerhin wirkt die von Merz angestoßene Entwicklung mobilisierend. Das zeige sich auch an den vielen Neueintritten in die Partei. Allein 20 seien es im Kreisverband Stuttgart seit Anfang des Jahres. "Ganz viele sagen: Jetzt erst recht."

Böblinger Grüne: Ein Robert zum Vernaschen

Eine Eintrittswelle gibt es auch bei den Grünen. In den Umfragewerten hat sich das, noch eine Parallele zur SPD, nicht wirklich niedergeschlagen. Aber offensichtlich ist, dass die Grünen wieder in die Regierung streben. Das Ziel: Robert Habeck soll Kanzler werden. Die Botschaften im Wahlkampf passt die Partei dementsprechend an. Bei der Basis und der klassischen Klientel, zu der auch Umweltverbände zählen, kommt das nicht immer gut an.

23. Januar, noch vor Merz' Paukenschlag: Die Böblinger Grünen haben am Abend zum Neujahresempfang ins Bärenkino geladen. Auf dem Programm: Ein Vierer-Gespräch mit Fynn Rubehn von der Grünen Jugend, Gemeinderat in Herrenberg, dem lokalen Kandidaten für die Bundestagswahl Tobias Bacherle, dem Landtagsabgeordneten Peter Seimer und Landesumweltministerin Thekla Walker. Danach folgt der Hauptredner: Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH).

Statt rotem Punsch bekommen die Gäste eine Getränkemarke – die erste Runde geht aufs Haus. Die Bar ist gut ausgestattet: Wasser, Cola, Wein, Prosecco, letzterer gekühlt in einer mit Eis gefüllten Wanne auf dem Tresen. Identitätsstiftende Nahrungsaufnahme gibt es auch: "Oh, Schokolade mit Robert Habeck", sagt Jürgen Resch, als er die auf den Tischen verteilten kleinen Täfelchen erblickt. Auf deren Verpackung ist Habeck Seit an Seit mit Bacherle abgedruckt. Der DUH-Chef prüft den Kakaogehalt: 71 Prozent, stellt er erfreut fest. "Dann ess‘ ich ihn!"

"Klima ist unattraktiv"

Nach dem Podiumsgespräch der vier Grünen – es geht vorwiegend um Erreichtes und zu Erreichendes – tritt Resch ans Rednerpult und kritisiert die Parteispitze: Dass keine pointierteren Aussagen zu Umwelt- und Klimaschutz in das Wahlprogramm geschrieben wurden, sei ein Schock für Umweltverbände gewesen. Die Grünen würden sich Wege zur Zusammenarbeit mit CDU und Wirtschaft offenhalten wollen, habe ihm der Bundesvorstand vor wenigen Wochen offenbart.

"Klima ist unattraktiv", meint dagegen der 20-jährige Rubehn. Sich auf soziale Gerechtigkeit zu fokussieren sei nach den Krisenjahren wichtig. In der Hinsicht wäre die CDU nicht der optimale Koalitionspartner: Was Soziales angeht, sei man näher an der SPD. Nach den aktuellen Umfragen, wäre eine Regierungsbeteiligung der Grünen allerdings gerade nur an der Seite der CDU denkbar. Und Co-Parteichefin Franziska Brantner lässt öffentlich wenige Gelegenheiten aus, Bereitschaft für schwarz-grün zu demonstrieren, so abweisend sich Unionsvertreter auch momentan noch geben. Käme Klimapolitik in einer schwarz-grün geführten Bundesregierung nicht zu kurz?

Da klappt es Thekla Walker die Zehennägel hoch

In Böblingen müht sich Thekla Walker um Beruhigung. Die Umweltministerin will bei der Lektüre der CDU-Klimapapiere festgestellt haben, dass es in den Reihen der Konservativen durchaus kluge Köpfe gebe, was Klimaschutz angeht. Auch wenn es ihr die Zehennägel aufstelle, bei dem was Jens Spahn oder Friedrich Merz manchmal von sich geben. Ob die Partei beim Wahlkampf nicht mehr auf Klimathemen statt auf die Person Robert Habeck setzen sollte? Habeck stehe auch für Klima, entgegnet Walker.

Der Zustand von Walkers Zehennägeln dürfte sich nach dem 29. Januar nicht verbessert haben, auch wenn sie als Landesministerin weniger direkte Eindrücke hat als der Bundestagsabgeordnete Tobias Bacherle. Dem stecken "die feixenden Gesichter der Rechtsextremisten im Parlament" immer noch "in den Knochen", schreibt er auf Anfrage in einer Mail. Dass Merz nicht bereit gewesen sei, "seine Vorschläge zu diskutieren und zu verhandeln", findet er "besorgniserregend" – aber offensichtlich nicht völlig überraschend. Es sei nichts Neues, meint Bacherle, "dass die Vertraulichkeit mit der Union nicht unbedingt gewährleistet ist" und auch "impulsive Pokertricks" seien zwar einer Bundesregierung nicht angemessen, aber etwas, "womit wir in den letzten drei Jahren den Umgang bereits üben konnten". Und die Basta-Mentalität von Friedrich Merz ändere nichts an der grünen Migrationspolitik.

Klingt abgebrüht und selbstbewusst. Aber wie sieht Bacherle persönlich eine schwarz-grüne Koalition? Er macht einen Exkurs zum Sicherheitspaket der Ampel-Regierung: Das habe ausgerechnet die Union, die in ihren Bundestags-Anträgen mit AfD-Unterstützung ja eine striktere Sicherheitspolitik forderte, im Bundesrat gestoppt. Dabei hätte es unter anderem den Datenaustausch zwischen Behörden erleichtert. "Ob Friedrich Merz bereit ist, über solche konstruktiven Vorschläge zu diskutieren und zu verhandeln, wird am Ende über die Koalitionsfähigkeit, vielleicht sogar über die Regierungsfähigkeit der Union an sich, entscheiden", schreibt Bacherle.

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