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Schutz vor Krisen

"Ende der Durchsage"

Schutz vor Krisen: "Ende der Durchsage"
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Eine nach der Corona-Pandemie eingesetzte Enquetekommission im baden-württembergischen Landtag will die Gesellschaft krisenfest machen und hat dazu fast 500 Handlungsempfehlungen vorgelegt. Weil vieles viel Geld kosten würde, stehen die Chancen auf Umsetzung schlecht.

Alexander Salomon, der Karlsruher Grüne vom linken Flügel seiner Partei, will eines verhindern: dass die beinahe 900 Seiten Abschlussbericht in irgendwelchen Ministeriums- und Verwaltungsschubladen zuerst zwischen- und dann endgelagert werden. In 22 öffentlichen Sitzungen hat die Enquetekommission "Krisenfeste Gesellschaft" 136 Sachverständige angehört und Konzepte zur gesteigerten Resilienz in schwierigen Zeiten entwickelt. Alle Einzelheiten sind breit dokumentiert, einerseits, um Verschwörungstheorien rund um die aus der Pandemie zu ziehenden Konsequenzen den Boden zu entziehen. Und andererseits, um Entscheider:innen und Betroffene über die notwendigen Veränderungen zu informieren – etwa bei der Katastrophenschutzplanung oder der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit oder zur Erarbeitung einer "HiAP-Strategie" (Health in All Policies) unter "Berücksichtigung verschiedener Themen von herausragender Bedeutung für die Gesundheit". Konkret genannt sind Klimawandel und die Reduzierung sozialer Ungleichheit.

Eine Zahl steht für eine der ungezählten Herausforderungen: Gegenwärtig fließen 96 Prozent der Gelder im Gesundheitswesen in Kuration, also die Wiederherstellung von Patienten, und nur vier Prozent in Prävention. "Investitionen in Prävention stellen aber Investitionen in die Zukunft dar", erläutert Birgit Walter-Frank, die Leiterin des Tübinger Gesundheitsamts. Eine besonders wichtige Zielgruppe seien Kinder und Jugendliche, weil im Schulunterricht viel praktisches Wissen vermittelt werden könne, das durch die Kinder auch deren Eltern erreiche. Ziel müsse sein, "eine gewisse Zahl" von Erkrankungen, etwa Adipositas, Diabetes mellitus oder Demenz, ganz zu vermeiden.

Unvermeidlich dagegen ist, dass mit der Erderwärmung die Zahl der Hitzetage in ganz Baden-Württemberg immer weiter steigen wird. Andreas Christen, Umweltmeteorologe an der Uni Freiburg, untersuchte die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels anhand des Beispiels ansteigender Mortalität durch Hitzebelastung. Seine Forderungen: Weil sich in Städten die dicht bebaute Umgebung nachts weniger abkühlt, müsse die "blaue Infrastruktur", also die Kaltluftbahnen, ausgebaut, Begrünungen erhalten und erweitert werden.

Wissenschaftlich Sinnvolles als Ideologie diskreditiert

Dabei könnte Baden-Württemberg deutlich weiter sein. Grün-Rot hatte sich 2014 mit einer Änderung der Landesbauordnung auf den Weg gemacht und einen Entrüstungssturm ausgelöst, obwohl deren Sinnhaftigkeit schon damals wissenschaftlich völlig unstrittig war. Der Eigentumsverein "Haus und Grund" kritisierte die "ideologiegetriebene Reform". Winfried Mack, damals CDU-Fraktionsvize im Landtag, sprach von einem "Griff in die obrigkeitsstaatliche grüne Mottenkiste" und zitierte genüsslich die Springer-Presse, die die so wichtige Maßnahme zur Anpassung an den Klimawandel als "absurde Efeunovelle" diskreditierte. Noch Jahre später wetterte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke gegen den "Unsinn mit der Dachbegrünung". In der Enquete nennen Sachverständige die Begrünung dagegen geboten, um der Hitzebelastung zu begegnen. "Auf politischer Ebene sind gesamtgesellschaftliche Aktionspläne relevant", erklärt der Freiburger Professor.

Mannheim hat bereits einen Aktionsplan, ebenso der Landkreis Ludwigsburg, Stuttgart legte eben erst unter dem Motto "Sommer, Sonne, Schwitzen" eine interaktive Karte kühler Orte an. Auf dem Bismarckplatz im Stuttgarter Westen stehen jetzt weithin sichtbare gelbe, schattenspendende Schirme, Stadteilbibliotheken werden als Cool-Spots zum Verweilen angeboten, auch die Kneipp-Anlage in Botnang oder der "Schlossgarten mit vielen Bäumen" sind eine Empfehlung für heiße Tage. Der Enquete wird das bei Weitem nicht reichen, denn die sieht den Klimawandel "als bedeutende Gesundheitsgefahr für die Menschen in Baden-Württemberg" und verlangt, "das Thema Hitze in den Fokus zu nehmen, weil Hitze schon jetzt als konkrete Beeinträchtigung erlebbar ist und das Ziel der Entwicklung einer hitzeresilienten Gesellschaft drängt".

Insgesamt kommen im Abschlussbericht fast 900 Mal "soll" und "sollen" vor, vom "müssen" ist sehr viel seltener die Rede. Teuer wäre die Umsetzung zentraler Empfehlungen dennoch, etwa wenn es unter dem Stichwort "Krisenfall" heißt, die Kommunikation mit der Bevölkerung sei unerlässlich, um größeren Schaden abzuwenden. Die Mitteilungen müssten "vertrauensvoll, vermittelnd, einfach verständlich, barrierefrei und redundant sowie mehrsprachig" sein.

MP: Männer sollen schwitzen, Frauen gebären

Der Landtag hat den Abschlussbericht bereits diskutiert und der Ministerpräsident höchstpersönlich die Latte für etwaige Umsetzungen überaus hoch gelegt, denn "Geld ist grundsätzlich ein begrenzender Faktor", erläutert Winfried Kretschmann (Grüne), "Ende der Durchsage." Was folgte, nennt er selber einen sehr großen Bogen. Seit der Vertreibung aus dem Paradies lebe der sterbliche Mensch unter Knappheiten, "und, wie es in der Schrift heißt, er muss im Schweiße seine Angesichts den Acker pflügen und die Frau ihre Kinder gebären". Keine Rede hingegen davon, dass der Kampf gegen die Erderwärmung eine Menschheitsaufgabe sei und Baden-Württemberg deshalb in den laufenden Haushaltsberatungen Prioritäten setzen würde, um den Erkenntnissen und Appellen der Enquetekommission gerecht zu werden.

Den Anschauungsunterricht, dass ein solches Vorgehen durchaus möglich ist, lieferte Kretschmanns kürzlich absolvierte Wien-Reise. Die österreichische Bundeshauptstadt ist über das Stadium, Sonnenschirme aufzustellen und Bibliotheken, Kirchen oder Museen als coole Plätze anzubieten, deutlich hinaus. Sie investiert Millionensummen in sogenannte Cooling-Maßnahmen, in mehr Grün, in Verschattung, in die 61 "Monumental- und Denkmalbrunnen", die als besonders wertvoll genannt wurden, weil das ständig bewegte Wasser die Umgebung kühlt. In der Regel von Bürger:innen mitbestimmt gibt es neue Parks in den einzelnen Bezirken, hundert sogenannte "Sommerspritzer" – Wassernebel erzeugende Duschen – und 75 "Brunnhilden", ebenfalls mit Sprühnebelfunktion.

Zudem erzählen Informationskampagnen vom Erkenntnisstand, unter anderem davon, dass allein die wetter- und klimawandelbedingten Schäden in Österreich Kosten von inzwischen schon über zwei Milliarden Euro pro Jahr verursachen. Bis 2030 werden sie auf drei bis sechs Milliarden anwachsen, für 2050 sind sie auf bis zu zwölf Milliarden hochgerechnet. Die Zahlen dürften im etwas größeren und bevölkerungsstärkeren Baden-Württemberg noch darüber liegen. "Würde es entsprechende Entschlossenheit und eine konsequente politische Durchsetzung selbst unpopulärer Maßnahmen auf wissenschaftlicher Grundlage geben wie im Zuge der Pandemie, hätten wir schon viel, viel mehr erreicht, die Hoffnung lebt", heißt es im Hitzeaktionsplan der österreichischen Bundeshauptstadt. Und weiter: "Die Hitze deckt auf, was in unserer Gesellschaft falsch läuft."

Auch dazu hat die Landtags-Enquete umfangreiche Ergebnisse zusammengetragen. Schon in einer der ersten öffentlichen Sitzungen im Juni 2022 wurde der frühere Wirtschaftsweise Peter Bofinger zur Krisendefinition und zu möglichen Reaktionen gehört. Der Ökonom und Professor hatte dabei kein Blatt vor den Mund genommen: "Solange man als Land Verschuldungsspielräume hat, kann man Krisen eigentlich ganz gut bewältigen." Vor allem um Nachfrageschocks zu bekämpfen, bestehe das Hauptinstrument darin, Schulden aufzunehmen.

Politisch heikle Empfehlungen

Die vielen Fachleute, die höhere Investitionen in der Vorbereitung für künftige Krisen verlangen, werden voraussichtlich ebenso wenig durchdringen wie jene, die politisch heikle Empfehlungen nicht scheuen, allen voran in Fragen Integration von Geflüchteten. Fouzia Hammoud, die Mannheimer Migrationsbeirätin, berichtete, wie viele Zugewanderte das deutsche Bildungssystem als sehr kompliziert wahrnehmen, sich weiterentwickeln wollten, aber nur schwer Anschluss fänden. Und sie verlangt, interkulturelle Treffen zu etablieren oder zu erleichtern, damit Menschen unterschiedlicher Herkunft überhaupt miteinander in Kontakt kommen könnten.

Die Sprachwissenschaftlerin und Migrationsexpertin Havva Engin hat aufrüttelnde Zahlen mit in ihre Anhörung im Landtag gebracht: 26 Prozent der geflüchteten Kinder bis sechs Jahre und 33 Prozent der Geflüchteten von sieben bis 14 Jahren leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Diese äußerten sich durch Angst, Schlafstörungen, Zurückgezogenheit, In-sich-gekehrt-Sein, Unruhezustände, Erschöpfung, Weinkrämpfe und Kommunikationsabbruch. Unter den unbegleiteten Minderjährigen mit Fluchterfahrung wiesen sogar rund 65 eine posttraumatische Belastungsstörung auf. Und Schulen müssten in die Lage versetzt werden, damit adäquat umzugehen. Und dann hat die Kommission – politisch besonders strittig – in ihre Handlungsempfehlungen noch aufgenommen, dass "auf eine rasche Integration Geflüchteter mit Bleibeperspektive in den Arbeitsmarkt und in die sozialen Sicherungssysteme hinzuwirken ist".

Aufregerthema im weiteren Umgang mit den Erkenntnissen ist ohne Zweifel die Kritik der Opposition. SPD und FDP haben zu zahlreichen Punkten ein Minderheitenvotum vorgelegt. Insgesamt kam den beiden Fraktionen die Corona-Aufarbeitung zu kurz. Florian Wahl, der rote Obmann in dem auch mit externen Fachleuten besetzen, aber schlussendlich allein von Grünen und CDU eingerichteten Gremium, sprach einigermaßen dramatisch sogar von einer "Enquete der Angst". Regierungsmitglieder und -abgeordnete hätten sich nicht retrospektiv mit möglichen Fehlern befassen wollen. Kretschmann machte wiederum deutlich, dass er nicht bereit sei, mit dem Wissen von heute Entscheidungen während der Pandemie zu beurteilen: Nicht alles hätte sich als richtig herausgestellt – aber eben im Nachhinein. Und er verlangte, Diskussionen über vergangene und in künftigen Krisen auf der Basis von Fakten zu führen.

Mit solchen und vielen Fragen sollte sich nach den Vorstellungen des Enquête-Vorsitzenden Alexander Salomon eine weitere Kommission befassen, damit die Erkenntnisse eben gerade nicht in Archiven verstauben. Der Abgeordnete hat die Einrichtung einer Zukunftskommission beim Landtag ins Spiel gebracht, nach Vorbild des finnischen "The Committee for the Future". Diese könnte, wie der Grüne vorschlägt, dauerhaft für Baden-Württemberg bedeutende Enwicklungen "aufzunehmen, diskutieren und einzuordnen" und als "parlamentarischer Thinktank" wirken. Das sei noch keine vollendete Idee, bekennt Salomon auf Kontext-Anfrage, aber "ein sehr spannender Ansatz". Die Finn:innen jedenfalls machen es vor, und das schon seit 1993. Der eigene Anspruch des Gremiums ist weitreichend. Denn es gehe darum, "wichtige politische Themen in einem so frühen Stadium erkennen, dass verschiedene Alternativen und politische Linien noch völlig offen und erst in der Entwicklung sind". In der Hoffung, dass Notwendigkeiten nicht ideologisch ausgebremst werden.

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1 Kommentar verfügbar

  • ehem. Korntalerin, noch immer bibelfest
    am 26.07.2024
    Antworten
    "und, wie es in der Schrift heißt, er muss im Schweiße seines Angesichts den Acker pflügen und die Frau ihre Kinder gebären".

    Der MP hat danebengeschossen. Abgesehen davon, dass "die Frau" in den allermeisten Fällen SEINE Kinder gebiert: Wo steht das denn in der "Schrift"?

    Dort (Lutherbibel)…
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