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Kontext im Merlin

Zurück zum Kalten Krieg

Kontext im Merlin: Zurück zum Kalten Krieg
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Gut 40 Jahre nach Mutlangen: Die Nato schickt wieder Raketen nach Deutschland. Ein herausfordernder Anlass, um über Wege zum Frieden zu diskutieren. Auf Einladung von Kontext stellt Winfried Hermann, grüner Minister und Pazifist, eine neue Initiative vor. Sie will den "Gleichklang" in Politik und Medien stören.

Auf nach Mutlangen! Unter diesem Betreff verschickt ein widerständiger, älterer Herr an seine Freunde eine Mail mit einem Text aus der taz. "Um garantiert abzuschrecken", lautet die Überschrift. Sie bezieht sich auf den Beschluss der Nato, Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Ein Beschluss ohne öffentliche oder parlamentarische Diskussion. "Kriegstreiber Putin macht es nötig", schreibt die Autorin, das Militärbündnis sehe sich gezwungen, "auf Frieden durch Abschreckung mit militärischen Mitteln" zu setzen. So hätte es auch in der FAZ oder in der "Welt" stehen können.

Zur Erinnerung: Mutlangen, eine Gemeinde im Ostalbkreis bei Schwäbisch Gmünd, hatte einen US-Stützpunkt auf ihrer Gemarkung, in dem Pershing-2–Atomraketen gelagert waren. Dagegen protestierte 1983 die Friedensbewegung mit ihr die Schriftsteller Heinrich Böll und Walter Jens sowie die grüne Ikone Petra Kelly. Es war die Zeit, in der Hunderttausende gegen Aufrüstung auf die Straße gingen, sich in einer Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm zusammenschlossen, und die grüne Pazifistin Marieluise Beck den sofortigen Abzug der Pershings forderte. Später war die einstige Pforzheimer Pädagogin unter den ersten, die nach schweren Waffen gegen Russland rief, lange vor Baerbock, Habeck, Hofreiter und dem "Spiegel", der "Die Olivgrünen" Ende April auf den Titel hob. Es war Zeitenwende in den Köpfen.

Hermann würde auch wieder nach Mutlangen gehen

Winfried Hermann, 71, war in Mutlangen, im Bonner Hofgarten und in der Menschenkette. Und er würde auch heute noch dorthin gehen. Damit gehört der baden-württembergische Verkehrsminister zur aussterbenden Spezies der Pazifisten in der Ökopartei, die ihren Weg in der Erlangung von Friedenstüchtigkeit begann, früh von den Zwängen der Realpolitik eingefangen wurde – insbesondere bei Militäreinsätzen im Ausland, denen sie alsbald zustimmte. Afghanistan war so ein Beispiel. Eine Gegenstimme kam von Hermann. Das seien brutale Auseinandersetzungen gewesen, erinnert er sich, stets unterlegt mit dem Vorwurf, sich moralisch über jene zu erheben, die die Drecksarbeit machen müssten. Vor zwei Jahren, im Mai 2022, hat er das in Kontext erzählt und dafür viel Prügel bezogen.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, den auch Hermann immer wieder scharf verurteilte, hatte ein Überbietungswettkampf im Waffenliefern begonnen. Immer mehr Panzer, Kampfjets, Marschflugkörper, tote Soldaten, geschätzt 70.000 in der Ukraine, 120.000 in Russland. Mit dem kürzlich gefassten Nato-Beschluss, wieder atomwaffenfähige Raketen in Deutschland zu stationieren, die Moskau erreichen können, hat die Militärlogik einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Es ist die Rückkehr des Kalten Krieges.

Hermann sieht eine "Remilitarisierung" in der Republik, spricht von einem "Hype der Rüstungsindustrie", einem "Rollback auf breiter Front" und staunt, dass viele reden wie die "Altvorderen vor bald 50 Jahren". Er hat jetzt eine Gruppe von Gleichgesinnten gefunden, die mit ihm gemeinsam auftreten, zum ersten Mal bei "Kontext im Merlin".

Auch Sozi Bausch ist ziemlich alleine – in der SPD

Einer von ihnen ist Ulrich Bausch, 64, Leiter der Reutlinger Volkshochschule, Sozialdemokrat und erfahren im politischen Grabenkampf. Er und seine Bildungseinrichtung erlangten nationale Berühmtheit durch die Einladung von Gabriele Krone-Schmalz, der ehemaligen ARD-Korrespondentin in Moskau. Ihr Vortrag ("Russland und die Ukraine") im Oktober 2022 wurde via Youtube 1,3 Millionen Mal abgerufen, vielfach goutiert, medial und wissenschaftlich hart kritisiert.

Ulrich Bausch: "Die Waffengläubigen sitzen in der Gewaltfalle. Durch das blinde Weitereskalieren wird Putin nur stärker und gefährlicher. Inzwischen wird er von fast 90 Prozent seiner Bevölkerung unterstützt, und international hat sich ein autoritäres Bündnis aus ehemals zerstrittenen fünf Atommächten formiert, das hinter Putin steht. Der Glaube an militärische Lösungen nützt ausschließlich der Rüstungsindustrie."

Besonders empört zeigte sich der Tübinger Direktor des Instituts für osteuropäische Geschichte, Klaus Gestwa, der die "Kreml-Apologetin" am liebsten von der Bühne verbannt hätte. Ebenfalls unerträglich erschien ihm die "Lobhudelei", die Referentin betreffend, durch den VHS-Chef, dem zumindest eine gewisse Sachkenntnis nicht abzusprechen war. Bausch war früher Dozent beim US-Militär und weiß einen Tomahawk von einem Taurus zu unterscheiden. In Kontext hat er seine Überlegungen zum Ukrainekrieg vor zwei Jahren dargelegt.

Wesentlich weniger Widerhall in der Öffentlichkeit fand sein Aufruf "Mehr Diplomatie wagen", den linke Sozialdemokraten aus Baden-Württemberg – unter ihnen das Ehepaar Däubler-Gmelin, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Hilde Matheis – im Juni formuliert hatten. Darin fordern sie einen "sofortigen Strategiewechsel" von Kanzler Olaf Scholz (SPD): statt militärischer Eskalation einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Sollte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, der Nürtinger Nils Schmid, ein Maßstab sein, dann dürfen sich Bausch & Co. keine Hoffnung machen. "Putin verhandelt nicht", beschied er jüngst seinen Kritiker:innen in Tübingen, "solange er glaubt, militärisch Erfolg zu haben."

Ein Militäretat, der Klima- und Sozialpolitik niederwalzt

Mit solch' kühlen Reaktionen wird auch der linke Grüne Hermann rechnen müssen. Er hat sie eingepreist und wird dennoch nicht müde ("Ich will nicht schweigen"), seine Fragen zu stellen: Kann der Krieg mit immer mehr Waffen beendet werden? Ist es realistisch, dass die Militärmacht Russland besiegt werden kann? Mit welchen Mitteln und zu welchem Preis? Was kommt danach? Bisher, sagt er, habe er darauf keine einleuchtenden Antworten bekommen.

Diese Fragen finden sich auch in dem Aufruf "Wege zum Frieden", mit dem er und seine Gruppe zu einem offenen und undogmatischen Dialog einladen ohne die gängige "Beschimpfungslogik" und mit Alternativen im Kopf. Sie möchten den "Gleichklang in Politik und Medien" stören, die Fixierung auf Waffen, Waffen, Waffen aufbrechen und den Versuch wagen, zumindest Zweifler davon zu überzeugen, dass Pazifisten keine Putin-Versteher sind, die das leidende ukrainische Volk im Stich lassen und den Aggressor zur Besetzung Europas einladen. Sie werden jene erreichen müssen, die solidarisch sind mit den Menschen, die noch in der Ukraine leben oder geflüchtet sind und denen gleichzeitig gruselt vor der Vehemenz, mit der Säbelrasseln für "Wehrfähigkeit" und "deutsche Führung" salonfähig wurde.

Und man wird auch noch fragen dürfen, schiebt Hermann nach, ob es gut ist, ganz allgemein betrachtet, Klima- und Sozialpolitik niederzuwalzen mit einem Militäretat, der alle Grenzen sprengt. "Die wirtschaftlichen Kosten für Deutschland nach zwei Jahren Ukraine-Krieg dürften deutlich höher liegen als 200 Milliarden Euro", sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher Anfang diesen Jahres in der Rheinischen Post.

Thomas Nielebock: "Als Friedens- und Konfliktforscher gibt es für mich drei Imperative: 1. Keine Dämonisierung des Gegners, sondern die Motive verstehen wollen. 2. Die nicht-intendierten Nebenfolgen militärischen Handelns und deren Eskalationsgefahren nicht übersehen. 3. Immer nach möglichen Alternativen eines militärischen Konfliktaustrags suchen."

Der Wissenschaftler im Quartett ist Thomas Nielebock, 70, ausgewiesener Friedensforscher, einst Uni Tübingen, heute für die Landeszentrale für politische Bildung und das Kultusministerium in Sachen Pädagogik unterwegs. Er diagnostiziert einen "gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus", der ein Einstehen für die Ukraine um jeden Preis beinhaltet – ohne Diskurs – und massiv in die pädagogische Arbeit eingreift. In einem empfehlenswerten Essay für die Bundeszentrale für politische Bildung ("Bleibt nur Gegengewalt?") beschreibt er den Bruch der baden-württembergischen Landesverfassung, Art. 12 so: Die Erziehung "zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe wird zugunsten einer Wertschätzung von militärischer Gewaltanwendung und Krieg zurückgestellt". Sein Pazifismus, sagt er, sei gespeist von den ausgebrannten Häuserruinen in Mannheim im Zweiten Weltkrieg, der Angst der Eltern in der Kuba-Krise 1962 und den US-Bombardements in Vietnam.

Der Krieg hat die Pfarrerin zur Pazifistin gemacht

Susanne Büttner: "Mich hat der Krieg in der Ukraine zur Pazifistin gemacht. Der Gedanke, ihn militärisch zu gewinnen, ist ein Wahnsinn. Vor allem aber treibt mich um, dass sich meine evangelische Kirche in zwei Weltkriegen nicht im Namen Jesu dem Militarismus entgegenstellte, sondern ihn unterstützte. Das ist jetzt, wenn auch in einer anderen historischen Situation, wieder der Fall. Ich finde das unerträglich."

Die Vierte in der Runde ist die evangelische Theologin Susanne Büttner, 61, Dekanin vom Rang her, Basisarbeiterin und Brückenbauerin. Seit 2001 ist sie Seelsorgerin im Frauenknast Schwäbisch Gmünd, zuständig für drinnen und den Kontakt nach draußen, was immer schwerer wird, weil das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung sowie die Armut immer größer werden und mit ihr die Mauern höher.

Ihre Vision sei eine Gesellschaft mit weniger Gefängnissen statt höheren Mauern, hat sie zur Amtseinführung als Gefängnisdekanin vor sechs Jahren gesagt. Ihre große Vision hat sie beim Aktionstag der Friedensbewegung im Oktober 2022 in Stuttgart vorgetragen: eine Menschenfamilie, die dem Gebot folgt: "Du sollst nicht töten."


Die Kontext-Veranstaltung "Wege zum Frieden" ist am Montag, 22. Juli um 20 Uhr im Stuttgarter Kulturzentrum Merlin, Augustenstraße 72. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen. Für Fragen, Anregungen, Kritik ist die Initiative unter aufbruch-zum-frieden--nospam@e.mail.de zu erreichen.

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4 Kommentare verfügbar

  • Kilian Becker
    am 22.07.2024
    Antworten
    Der Artikel ist uferlos, trotzdem der Versuch, einige Punkte aufzugreifen.

    - Der russische Überfall auf die Ukraine fand im Frühjahr 2014 statt, nicht im Februar 2022.
    - Es findet kein Überbietungswettkampf im Waffenliefern statt, sondern das genaue Gegenteil davon. Die Ukraine bekommt das…
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