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Melis Sekmen

Die Überläuferin

Melis Sekmen: Die Überläuferin
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Politik, sagt die Bundestagsabgeordnete Melis Sekmen, muss den Mut haben, unbequeme Realitäten zu benennen, "auch wenn es nicht in die eigene politische Erzählung passt". Für sich selbst allerdings strickt die Ex-Grüne und Neo-CDUlerin aus Mannheim eine reichlich dubiose Legende.

Der Empfang für Melis Sekmen war überaus herzlich: Mit Applaus und Küsschen, viel Anerkennung und "großem Respekt" (CDU-Bundeschef Friedrich Merz) für ihren Schritt wurde die 30-jährige Mannheimer Bundestagsabgeordnete in der vergangenen Woche – nach ihrem Wechsel von den Grünen zur Union – von ihren künftigen Fraktionskolleg:innen begrüßt. Vorerst hat sie in der CDU/CSU-Fraktion Gaststatus, was ihr den ersten Offenbarungseid schon mal ersparte. In der letzten Plenarwoche vor der Sommerpause versuchte die Union erfolglos, das deutsche Lieferkettengesetz zu Fall zu bringen. Als sie noch Grüne war, hatte Sekmen immer wieder dafür geworben, "eine nachhaltige und soziale Handelspolitik zu etablieren". Denn: "Wen von uns lassen Berichte über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in Textilfabriken in Südasien, über Kinderarbeit auf Kakaoplantagen in Westafrika oder über den Abbau des Konfliktrohstoffs Coltan in Zentralafrika nicht empört, aber doch ratlos zurück?" Als grüne Obfrau im Wirtschaftsausschuss des Bundestags war Sekmen immer Anhängerin strenger Regelungen und ganz nebenbei auch stolz auf Mannheim als "Fairtrade-Town".

Großstadthintergrund wie sie haben in der Unionsfraktion nur wenige. Jetzt wird Sekmen dort die Jüngste sein und eine der ganz wenigen mit türkischen Wurzeln. Die christlich-demokratischen und christlich-sozialen Volksvertreter:innen und vor allem bürgerliche Medien jubilieren darüber um die Wette. "Mehr CDU-DNA geht kaum", trompeten die Gen-Expert:innen von "Bild", weil Sekmens Familie durch viel Arbeit und Leistung den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft habe. Und das Magazin "Fokus" dreht gleich das ganz große Rad, thematisiert eine mögliche Vorbildwirkung und sinniert jetzt über die verlockende Frage, ob "die Grünen-Abgeordneten das sinkende Schiff verlassen". Der nordbadische Regionalsender RNF mutmaßt, dass der Vorgang eine Symbolkraft hat, die gar nicht hoch genug einzuschätzen sei. Sogar in die Primetime-Nachrichten des Fernsehens hat es die Überläuferin geschafft, nicht zuletzt mit ihrem Bekenntnis, dass "meine Entscheidung das Ergebnis eines langen Prozesses ist".

Grüne Überzeugungen gehen schnell über Bord

Jedoch stimmt da was nicht. Noch am 9. Juni hatte Sekmen nicht nur aufgerufen, an der Europa- und der Gemeinderatswahl teilzunehmen, sondern konkret ein Kreuzchen für die Liste eins der Grünen und namentlich für grüne Kandidat:innen empfohlen. In ihrer Heimatzeitung, dem "Mannheimer Morgen", vertrat sie am vergangenen Wochenende in einem langen Interview die Ansicht, Kommunalwahlen seien immer Personenwahlen, und dass sie Leute unterstützt habe, "die ich inhaltlich sehr gut finde und von denen ich finde, dass wir sie dringend im Gemeinderat brauchen". Eine davon ist ihre Nachrückerin Regina Jutz, die als größte Herausforderung beschreibt, dass "die Politik den Klimawandel endlich angehen muss", weil eigene Verhaltensänderungen allein nicht reichten. Auch Sekmen war überzeugt, dass es "echten Klimaschutz nur mit starken Grünen gibt". Inzwischen rühmt sie bloß noch vage den "positiven Geist" des neuen CDU-Grundsatzprogramms, das zum Thema Erderwärmung nur ziemlich allgemeine Einlassungen bietet. Dabei hat sie noch am Tag nach den Europa- und Kommunalwahlen ihrer – inzwischen früheren – Partei gute Ratschläge gegeben, den Menschen zu zeigen, "dass wir einen klaren Kurs haben, wenn es darum geht, Zuwanderung zu steuern" oder Klimaschutz und Wirtschaft zusammenzudenken. Dabei ist die Idee, mit grünen Ideen schwarzen Zahlen zu schreiben, doch älter als sie selber.

Neben Lieferketten und der konkreten Ausgestaltung von Klima- und Umweltschutz ist die Migrations- und Flüchtlingspolitik das zentrale Thema, bei dem die Positionen von Union und Grünen nicht einmal annähernd deckungsgleich waren und sind. Noch vor vier Wochen waren sich Sekmen und der nordbadische CDU-Bezirksvorsitzende Moritz Oppelt heftig in die Wolle geraten über die Migrationspolitik. Anlass bot die Debatte rund um die tödliche Messerattacke auf einen Mannheimer Polizisten und die Bewertung der Gefahren durch den Islamismus. Sekmen verteidigte das neue Ausländerrecht, denn "ein modernes Einwanderungsland braucht ein modernes Staatsangehörigkeitsgesetz". Allein in Mannheim lebten Menschen aus circa 170 Ländern, "sie sind Teil unserer Gesellschaft, leisten für unser Land und zahlen Steuern", und da sei es an der Zeit, "dass wir ihnen unsere Anerkennung und Wertschätzung für deren Lebensleistung ausdrücken und ihnen endlich die politische Teilhabe ermöglichen".

Gewiss wird demnächst im Unionsfraktionssaal dieses Problem wieder aufgerufen. Gelegenheit für die frischgebackene Christdemokratin, mit guten Argumenten für eine Revision bisheriger schwarzer Positionen zu fechten. Denn bisher gilt das Urteil von Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz über die Neuregelungen, wonach "nie in der Geschichte unseres Landes eine Regierung so klar gegen die Interessen der Bevölkerung regiert " habe. Sein Fraktionsvize Alexander Dobrindt (CSU) sieht sogar den deutschen Pass "verramscht" durch die Politik der Ampel. Und der Heilbronner Abgeordnete Alexander Throm, Kollege der bejubelten Überläuferin in der baden-württembergischen Landesgruppe, spricht vom "Staatsangehörigkeitsentwertungsgesetz", mit dem die Ampel vor allem neue Wählerschichten "generieren will", vom Ausschütten der Staatsbürgerschaft mit der Gießkanne. Ob die Mannheimerin da dagegenhalten kann oder darf? Immerhin hat Merz im Zusammenhang mit Forderungen, sie möge ihr Mandat zurückgeben, ein großes Wort gelassen ausgesprochen: Sekmen sei frei gewählte Abgeordnete und nur ihrem Gewissen verpflichtet.

Apropos Mandat: Die frühere Gemeinderätin ist über die grüne Landesliste in den Bundestag eingezogen, hat ihr Mandat dort also ganz wesentlich ihrer Partei zu verdanken. Beim Listenparteitag 2020 in Heilbronn hatte Sekmen nach einem engagierten Vorstellungsauftritt einen der aussichtsreichen vorderen Plätze ergattert. "Jetzt ist es unsere Verantwortung, mit unseren grünen Ideen und unseren Konzepten die Menschen zu überzeugen und mit einem konsequenten Klimaschutz und einer grünen Sozialpolitik dafür zu sorgen, dass unserer Gesellschaft und Wirtschaft die Transformation gelingt", hatte sie damals gesagt und sich "mit Herzblut und Verstand" angeboten, weil "Grün den Unterschied macht".

Bisherige Überläufer:innen blieben politisch glücklos

Keineswegs ist Melis Sekmen die erste Parlamentarierin aus dem Südwesten, die die Seiten wechselt. Allerdings wäre sie die erste, die nach dem Übertritt so Fuß fassen könnte, dass es für ein Mandat in der folgenden Legislaturperiode reicht. Drei Landtagsabgeordnete gingen im Laufe der Zeit von den Grünen zur CDU. Die Erklärungen dafür waren immer ähnliche. Heike Dederer zog 2005 die Konsequenzen aus ihrer zunehmenden Entfremdung gegenüber grüner Wirtschafts- und Finanzpolitik und ging zur CDU unter Ministerpräsident Günther Oettinger, der es überhaupt ganz gut konnte mit den Leuten von der einstigen Alternativpartei. "Der grüne Laubfrosch hüpft weiter", urteilte der SWR damals. Allerdings nur in die Ministerial- und später nach Hessen in die Landtagsverwaltung. Die erhoffte Rückkehr in die Politik hingegen blieb ihr ebenso verwehrt wie Michael Jacobi, ihrem Ehemann, der die Landtagsfraktion der Grünen 2007 verließ.

Der bekannteste Aus- und Umsteiger war der Bundestags- und Landtagsabgeordnete Oswald Metzger, der im November 2007 bei den Grünen aus- und im April 2008 bei der CDU eintrat. Sich selbst und seiner neuen Heimat CDU mutete er mehrere Anläufe zu, um anzudocken und in den Bundestag zurückzukehren. "Menschen lieben den Verrat, aber nicht den Verräter", sollte er ernüchtert urteilen, als endgültig klar war, dass die Parteispitze um Angela Merkel den Zugang zwar bejubelt, dann aber jede weitere Unterstützung verweigert.

Sekmen hätte mit dem inzwischen 69-Jährigen telefonieren können, der sich unter anderem als Autor im ziemlich rechtskonservativen "Einblick" von Roland Tichy betätigt. Mit seinen Texten soll er dort die "liberal-konservative Elite" ansprechen, die vom "bevormundenden Mainstream-Journalismus" genug habe und "die Wahrheit" vertrage. Vermutlich hätten die Mannheimerin Sekmen und der eigensinnige Oberschwabe Metzger etliche Gemeinsamkeiten gefunden – auch dazu, wie sich Abgeordnete und ihre Partei auseinanderleben können. In einem wichtigen Punkt jedoch liegen Welten zwischen den beiden, denn Metzger hat sein Mandat 2007, damals im Landtag sitzend, zurückgegeben, wiewohl er der Südwest-CDU damit zur absoluten Mehrheit hätte verhelfen können. Sekmen hat das nicht vor.

Sekmen nimmt in Anspruch, was sie früher kritisierte

Die Ex-Grüne misst hier mit zweierlei Maß; als 2017 ihr Parteifreund Thomas Hornung, im Brotberuf vorübergehend Pressesprecher der Fraktion der Grünen im baden-württembergischen Landtag, im Mannheimer Gemeinderat die Seiten wechselte und zur CDU ging, wusste Sekmen ganz genau, dass er sein Mandat zurückzugeben habe. Und bedauerte, dass dieser Wechsel "leider den Eindruck derjenigen bestärkt, die Politikern immer wieder unterstellen, ihr Engagement nur zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen".

Hornung blieb damals, weil er, so begründete er es, durch Kumulieren und Panaschieren ein gutes persönliches Ergebnis erzielt habe und den Wählerauftrag weiter wahrnehmen werde. Sekmen argumentiert heute – das Sein bestimmt das Bewusstsein – genauso, fühlt sich ihrem Mandat sogar verpflichtet, offenbart allerdings auch ein Missverständnis, wenn sie sich in der Facebook-Erklärung an die "Follower und Followerinnen" wendet, die sie meint mitnehmen zu können zur CDU: "Ich bleibe Eure Melis, ihr könnt euch darauf verlassen, ich werde für euch weiterarbeiten." Was nicht wenige der Angesprochenen jedoch gar nicht wollen. "Ihren Gesinnungswandel muss man respektieren, Ihr Festhalten an einem politischen Amt, das Ihnen nur durch die Wählerstimmen der grünen Partei zugefallen ist, nicht", antwortet einer. "Ihre persönliche 'Weiterentwicklung' in Ehren – ein Listenmandat ist keine Erbpacht und nicht alles, was rechtens ist, ist richtig."

Eine Streitfrage, in der die Langzeitstudentin diametral anderer Meinung als ihre neue Partei ist, betrifft eine mögliche künftige CDU-Kandidatur für den Bundestag und damit die eigene Zukunft in spezieller Weise. Denn Sekmen ist zwar Anhängerin des im März 2023 beschlossenen neuen Bundestagswahlrechts, das unter anderem den Verzicht auf Überhangmandate vorsieht. Sie hat aber, wenn die beschlossenen Neuerungen vor Gericht bestehen, gute Chancen, auch dessen Opfer zu werden. "Der Bundestag wird kleiner", freut sie sich im März 2023. Die Reform sei "längst überfällig und notwendig", und ihr persönlich sei ein arbeitsfähiges, vielfältiges Parlament sehr wichtig: "Hätten wir nicht eingegriffen, wären bis zu 900 Abgeordnete möglich und die Kosten, die am Ende von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern übernommen werden, weiter gestiegen." Sie hofft auf vielfältige, die Gesellschaft widerspiegelnde Listen. Auf diesem Wege, über einen Listenplatz, hätte sie aber ebenso wie als Mannheimer Direktkandidatin – Stand heute – keinerlei Chance auf einen Einzug in den Bundestag, selbst bei einem sehr guten Ergebnis der Südwest-CDU.

Jetzt hat sie erst einmal den Aufnahmeantrag an den Kreisverband Mannheim gestellt, die Annahme ist Formsache. Und dann wird sie austesten können, ob sie die bei den Grünen vermisste Debattenkultur in der Union findet. Die "Meinungskorridore" seien ihr zu eng geworden. In ihrer alten Partei wollte sie für die Verbreiterung nicht sorgen.

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6 Kommentare verfügbar

  • Philipp Horn
    am 15.07.2024
    Antworten
    Ihr schreibt es ja, sie ist nicht die erste , die zur CDU wechselt. Mein Eindruck ist, dass sehr viele grüne PolitikerInen sehr geschmeidig sind , wenn's gerade passt.
    Ich bin nur noch gespannt, wann unser MP zugibt, dass er eigentlich schon lange CDU Mitglied ist. Würde wenigstens zu mache…
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