Wieder einmal ist Wien Vorbild. Oder richtiger: müsste es sein. Seit 2012 kostet in Österreichs Hauptstadt die Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr 365 Euro. Das Neun-Euro-Ticket, das es in Deutschland als Teil des Entlastungspakets der Bundesregierung angesichts gestiegener Energiepreise ab 1. Juni für drei Monate geben wird, orientiert sich allerdings höchstens auf den ersten Blick daran. Wenn Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) durch das Ticket jetzt freudig "einen richtigen Ansturm" auf den Nah- und Regionalverkehr erwartet oder mit x Mal Umsteigen sogar durch die ganze Republik, weil sich dann zeige, "dass wir mit dieser Maßnahme genau richtig liegen", dann reiben sich österreichische Fachleute einigermaßen verblüfft die Augen. Und erinnern an die Schrittfolge: Denn die VerkehrspolitikerInnen an der Donau wollten – genau andersrum – vermeiden, dass die Senkung der Preise einen kaum zu bewältigenden Run auslöst. Der neuen Tarifstruktur ging deshalb eine von langer Hand geplante Ausweitung des Angebots voraus, gerade um NeukundInnen nicht gleich wieder abzuschrecken. Trotzdem war das Gedränge in Bahnen und Bussen anfangs groß.
Genau für diesen großangelegten Ausbau fehlen in der Bundesrepublik seit Jahren die politischen Mehrheiten und damit resultierend, das nötige Geld. Stattdessen fließen jetzt 2,5 Milliarden Euro ins "Sommersonderangebot", so Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann, der – wie zahlreiche Fachleute – die Gefahr sieht, dass angesichts des Gedränges vielerorts NeukundInnen nicht angeworben, sondern abgeschreckt werden. Und dass AutofahrerInnen sagen: Nie wieder Zug. Der Vorsitzende von Pro Bahn im Land, Stefan Buhl, verweist gerade auf die touristisch beliebten Strecken, auf denen keine vom Neun-Euro-Ticket ausgenommenen Fernzüge verkehren – ICE, IC und EC – und auf übervolle Garnituren, etwa auf der Schwarzwaldbahn zwischen Offenburg (Ortenaukreis) und Singen (Kreis Konstanz), auf der Bodensee- oder der Gäubahn.
Scheitert das Ticket, hat nicht die FDP ein Problem
Längst also hätten sich alle Beteiligten mit den Zusammenhängen befassen können. Oder sie wollten gar nichts lernen: Wissing war ab 2016 Verkehrsminister in Rheinland-Pfalz. Unvorstellbar, dass er nicht weiß, was tatsächlich zu einer Verkehrswende in Großstädten, in Mittelzentren und sogar im ländlichen Raum führen kann. Und die Grünen haben noch ein ganz anderes Problem. Denn deren neue Bundesvorsitzende Ricarda Lang gibt sich in ihrer Freude über "Neun für neunzig" zwar einigermaßen aufgekratzt: "Wir machen Bus- und Bahnfahren so billig, wie es in Deutschland wahrscheinlich noch nie war." Aber im Gegenzug gab die Partei nach und stimmte dem irrwitzigen Tankrabatt per Steuersenkung zu, um die Preise für Benzin und Diesel anhaltend unter zwei Euro zu drücken.
Würde das Billig-Ticket doch noch scheitern, könnten gerade die Liberalen, allen voran Wissing höchstpersönlich, das Schauspiel gelassen aus der ersten Reihe beobachten: Sie wissen, dass dies und gegebenenfalls steigende Tarife im Herbst als Folge der Einbußen in den Monaten Juni, Juli und August vor allem den Grünen angelastet würden.
Wien zeigt: Eine Kombination von Maßnahmen ist nötig
Dazu, wie der ÖPNV tatsächlich anhaltend attraktiv werden könnte, gibt es unzählige Untersuchungen. Hermann Knoflacher zum Beispiel, der berühmte emeritierte Professor am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien, weiß schon lange, dass Preissenkungen oder Gratis-Varianten insbesondere FußgängerInnen und RadfahrerInnen in Bus und Bahn locken, nicht AutofahrerInnen. Die Stadt Wien hat vor einem Jahr eine "vertiefte Auswertung" vorgelegt ("Aktive Mobilität in Wien"), wonach die Veränderungen selbst in einer großen Metropole durchaus überschaubar ausfallen – und das trotz des 365-Euro-Jahrestickets. 2010 wurden sechs Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, 2019 waren es 6,9 Prozent. Die Anteile für reine Fußwege (27,5 Prozent) sowie für den öffentlichen Verkehr (38,2 Prozent) blieben erstaunlicherweise exakt gleich. Und jener des motorisierten Individualverkehrs reduzierte sich minimal von 28,4 auf 27,5 Prozent. Der müsse eben "durch eine Kombination von Maßnahmen immer unattraktiver werden", sagt Knoflacher.
5 Kommentare verfügbar
Andrea K.
am 16.05.2022Egal wie: Wenn in Deutschland annähernd so viel Energie in das Finden von Lösungen investiert würde, wie in das Aufzeigen von Problemen fließt, wäre…