Bei einem Treffen zwischen Kahrs und Olearius gab es allerdings noch einen Dritten im Bunde, dessen politischer Einfluss seitdem nicht nur ungebrochen, sondern beträchtlich erweitert ist: Jörg Kukies, von dem das "Handelsblatt" aktuell schreibt: "Er kennt wie kein zweiter Sozialdemokrat die Finanzwelt – und ihre Abgründe." 17 Jahre lang war Kukies bei Goldman Sachs, zuletzt als Co-Chef der deutschen Niederlassung, mit den Tricks der Branche dürfte er bestens vertraut sein. Nun wurde er zum Leiter der Abteilung Finanz- und Wirtschaftspolitik im Kanzleramt, nachdem er Olaf Scholz schon seit 2018 als rechte Hand behilflich ist. Dabei sollte er als Staatssekretär im Finanzministerium an der Regulierung des Finanzmarktes arbeiten. Als er wenige Monate vor seinem Amtsantritt von der "Wirtschaftswoche" auf den hohen Anteil von ehemaligen Goldman-Sachs-Leuten in der Regierung von Donald Trump angesprochen wurde und es um eine mutmaßlich bankenfreundliche Politik ging, gab Kukies zu Protokoll: "Die Annahme ignoriert die Tatsache, dass schon große Teile der bisherigen Regulierung nicht gegen die Banken, sondern im Konsens mit ihnen entstanden sind."
Das gilt freilich nicht nur für die USA. In einem Cum-Ex-Verfahren vor dem Landgericht Bonn berichtete ein Zeuge im Oktober 2019, dass in der Bundesrepublik ein Gesetzesvorschlag der Bankenlobby übernommen wurde, "eins zu eins, ohne dass ein Komma geändert wurde". Das Portal "Abgeordnetenwatch" hat die relevanten Dokumente analysiert – "und tatsächlich: Entscheidende Passagen aus Lobbyschreiben des Bundesverbandes deutscher Banken wurden in den folgenschweren Gesetzentwurf übernommen". So habe der Verband 2003 einen selbst verfassten "ersten Entwurf eines steuergesetzlichen Formulierungsvorschlags" versendet. Und der wurde 2007 fast wortgleich zu geltendem Recht. Die Auswirkungen waren fatal, wie der Zeuge in Bonn schildert. "Es war gedacht zur Eindämmung von 'Cum-Ex'. Aber es war ein Brandbeschleuniger." Und das, obwohl Landesbehörden gewarnt hatten, dass "keine rechtlichen Gründe für die vorgeschlagenen Änderungen ersichtlich" seien, wie das Finanzministerium von Nordrhein-Westfalen 2005 betonte: "Mit den komplizierten Regelungen soll offenbar lediglich die bisherige Bankenpraxis (...) legalisiert werden."
Auf ein Neues: Der Steuerraub geht weiter
Gesetzesänderungen von 2012 und 2016 sollten Cum-Ex- und die wesensverwandten Cum-Cum-Geschäfte unmöglich machen. Doch ein investigatives Recherchenetzwerk unter Leitung von "Correctiv" ist auf Alarmsignale gestoßen, die nahelegen, dass die milliardenschweren Steuergeschäfte zulasten des Allgemeinwohls weitergehen international, aber auch in Deutschland. "Wir haben einen Anfangsverdacht, dass es neue Modelle gibt", berichtet die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker. Mit über 100 Mitarbeitenden treibt sie die Aufklärung des Steuerraubs voran und verweist auf weiterhin auffällig hohe Ausschläge bei Aktien-Transaktionen rund um den Dividendenstichtag – "ganz ähnlich wie zu den Hochzeiten von Cum-Ex", bilanziert "Correctiv". Im Oktober 2020 forderte zudem der Bundesrechnungshof dazu auf, ein "Schlupfloch für Steuerbetrug zu schließen", und legte auf 23 Seiten dar, welche Praktiken in Deutschland weiterhin möglich seien. Und auch der Mannheimer Wirtschaftsprofessor und Cum-Ex-Experte Christoph Spengel ist im Gespräch mit "Correctiv" überzeugt, dass steuergetriebene Geschäfte in Deutschland weiterhin möglich sind: "Das glaube ich nicht, das ist so." Die BaFin aber glaubt es nicht.
Entgegen der in Teilen der Bankenbranche verbreiteten Rechtsauffassung, dass der Steuerraub durch das Ausnutzen vermeintlicher Schlupflöcher völlig legal sei, haben mehrere Gerichte das Vorgehen inzwischen als rechtswidrig verurteilt. Im Cum-Ex-Verfahren vor dem Landgericht Bonn sind die Angeklagten im März 2020 schuldig gesprochen worden. Es ist das erste Grundsatz-Urteil gegen die Cum-Ex-Praxis, wobei der früheste Fall einer Anwendung schon für 1990 dokumentiert ist. Dass die Politik diese Geschäfte lange Zeit nicht unterbunden habe, ändere laut Richter Roland Zickler "nichts daran, dass man Sachen, die man nicht machen darf, nicht macht". Und er fragte: "Wollen wir in einer Welt leben, in der jeder jeden bescheißt?"
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Manfred Fröhlich
am 16.12.2021