Es sind Bilder, an die sich die Gesellschaft scheinbar gewöhnt hat. Der Polizeitaucher Juan Francisco Valle birgt ein Baby aus den Fluten vor der spanischen Exklave Ceuta. "Eiskalt" und "völlig blass" sei es gewesen, erzählte er dem öffentlich-rechtlichen Sender RTVE. Auf dem Friedhof Sidi Embarek in Ceuta wird wild geschaufelt, Fotos werden geschossen. Der lokale Fernsehsender FaroTV Ceuta zeigt, wie der 19-jährige Sabir zu Grabe getragen wird. Es ist der erste von mehreren offiziell bestätigten Todesfällen in der aktuellen Krise an der spanisch-marokkanischen Grenze. Das Sterben und sterben lassen geht wieder los.
Nachdem Marokko vor etwa zwei Wochen seine Grenze zu der autonomen Stadt Ceuta öffnete, machten sich über 8.000 Menschen aus dem Königreich auf den Weg. Die Polizeieinheit Guardia Civil schickte Einheiten, das Militär fuhr mit Schützenpanzern vor und ließ Hubschrauber kreisen. Die als rechtspopulistisch bis rechtsextrem eingestufte Partei Vox schreibt auf sozialen Netzwerken, man solle die "Invasion" stoppen. Der Konflikt ist nicht neu, sondern lediglich neu aufgeflammt: Marokko und Spanien spaltet eine komplexe diplomatische Krise.
Legale Pushbacks?
Etwa 6.600 der rund 8.000 MigrantInnen schickte man laut RTVE direkt nach Marokko zurück. In Spanien hat sich dafür der Begriff der "heißen" Abschiebung eingebürgert. Pushbacks, also das Zurückdrängen ankommender Flüchtender, ist eine illegale Praxis. "Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet eine Kollektivausweisung ausländischer Personen", sagt Robert Nestler, Jurist bei der NGO "Equal Rights Beyond Borders". Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied allerdings 2020 in einem Urteil, dass Spanien Schutzsuchende, die an den Exklaven Melilla und Ceuta ankommen, ohne individuelle Prüfung kollektiv zurückschicken darf. Einzige Ausnahme: Minderjährige. Davon befinden sich allerdings, je nach Quelle, etwa 850 bis 1.500 unter den Geflüchteten in Ceuta. Zudem betraf die Gerichtsentscheidung explizit den hohen Grenzzaun. Die Bilder aus Spanien zeigen, wie Schutzsuchende direkt am Strand in Massen zurückgewiesen werden. Unter ihnen auch sehr jung aussehende Menschen.
Generell geht der EGMR stets davon aus, dass die Möglichkeit besteht, Schutz zu beantragen – und dass Betroffene diese Möglichkeit nutzen müssen. Es sei sehr eindeutig, dass unter den momentanen Bedingungen dieser Fall nicht gegeben sei, so Rechtswissenschaftler Nestler.
Nestler ärgert sich über die "Diskursverschiebung", die sich nach und nach eingeschlichen habe. "Lange wurden Pushbacks geleugnet. Aus Griechenland hieß es etwa, das seien 'Fake News'", so der Menschenrechtler. Jetzt, da die Beweislast zu erdrückend sei, wolle man es so darstellen, als sei das systematische Brechen des Rechts legal. Nestler kritisiert diese "Umprägung der Narrative".
"Man delegiert an andere, was man selbst nicht darf"
Karl Kopp ist sich sicher. Es geht ums Ganze. Die "Essenz" des "Projektes Europa" sei in Gefahr. Und zwar schon seit etlichen Jahren. Mit der "Essenz" meint er die Werte, die in Artikel 2 des EU-Vertrages festgehalten wurden: Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit nebst anderen bedeutungsschwangeren Begriffen. Die aktuellen Bilder aus Spanien seien so "hässlich und ehrlich" wie selten zuvor. Man habe mittlerweile eine ganze "Bibliothek an dokumentierten Menschenrechtsverletzungen" an den Außengrenzen Europas. Kopp – der nichts mit dem rechten Verlag am Hut hat – ist Leiter der Europaabteilung bei "Pro Asyl". Er kritisiert: "Es gibt kaum noch ein Tabu in der europäischen Flüchtlingspolitik." Die letzte Stufe, die man noch erreichen könne: Schiffe versenken. Der feuchte Traum vieler Rechtsextremer.
1 Kommentar verfügbar
tomás zerolo
am 27.05.2021