Das vergangene Wochenende hatte so gut begonnen aus Sicht der AktivistInnen, die gegen die von ihnen so getaufte Kretschmannisierung der Klimapolitik ankämpfen: Die üppige überregionale Berichterstattung ließ Blütenträume sprießen. "Landtag, wir kommen", hieß es in einem der vielen Tweets. Die Berichterstattung in "Zeit" und "Spiegel" wurde munter geteilt, letzterer leistete sich unverhohlene und im Netz viel beklatschte Vorfreude: "Es würde schon reichen, wenn die junge Partei den Grünen ein paar Prozentpunkte klaut." Am vergangenen Sonntagmittag jedoch folgte die Kollision mit der Realität: Der dringend notwendige Parteitag wurde wegen technischer Probleme abgebrochen. Zu dem vielen, was bei den NovizInnen auf der Politbühne fehlt, kommt noch ein Wahlprogramm hinzu.
Dabei ist einiges geschafft. Erst im vergangenen September hatte sich die Gruppierung zusammengefunden. Strukturen wie Bezirksgruppen oder andere Untergliederungen gibt es zwar noch nicht, dafür viel Engagement und noch mehr Leidenschaft. Was sich darin zeigt, dass in 67 der 70 Wahlkreise zwischen Main und Bodensee unter erschwerenden Corona-Bedingungen die notwendigen Unterschriften gesammelt und alle Formalien erfüllt sind, um fast flächendeckend zur Landtagswahl anzutreten. Die CDU frohlockte schon ob der Konkurrenz für die Grünen. Selbst der zur Angriffsfläche stilisierte, weil aus ihrer Sicht untätige Winfried Kretschmann schüttelte hoch oben in der Villa Reitzenstein bedächtig sein Haupt: "Das könnte gravierende Folgen haben."
Könnte, wird aber kaum. Gerade Neugründungen haben mit dem massiven Problem eines insgesamt extrem niedrigen Bekanntheitsgrades zu kämpfen. Anders als bei den Grünen Ende der Siebziger treffen sind unter den ProtagonistInnen auch nicht viele erfahrene Köpfe aus anderen politischen Gruppierungen. Obendrein liegt es in der Natur der Sache, dass sich Frischlinge erst einmal ausführlich mit sich selbst beschäftigen müssen. Und dies wiederum lässt erfahrungsgemäß Konflikte ausbrechen, von denen im idealistischen Überschwang der Startphase noch nichts zu ahnen war.
Alleinstellungsmerkmale sind abhanden gekommen
"Zum Schluss muss ich leider noch etwas Betrübliches bekannt geben", schreibt zum Jahresanfang Marco Pulver, einer der beiden Noch-Vorstände, "nachdem wir zuletzt in einer Urabstimmung nochmals mit deutlichem Ergebnis unseren Antritt zur Landtagswahl bestätigt hatten, sahen unsere beiden Vorstandsmitglieder Jessica Hubbard und Jessica Stolzenberger unseren Weg nicht mehr als den für sie besten Weg an, um sich bestmöglich für Klimagerechtigkeit zu engagieren." Zwei weitere Vorständlerinnen und Mitbegründerinnen haben sich ebenfalls verabschiedet, wollen nicht festhalten am Ziel, den Grünen Druck zu machen. Vor allem aber, sagt Sandra Overlack, die am Karlsruher KIT studiert, sei ein wichtiges Ziel bereits erreicht. "Drei Parteien, von denen voraussichtlich zwei in den Landtag einziehen werden, bekennen sich in ihren Wahlprogrammen zum 1,5-Grad-Ziel, zu CO2-Budgets und zur Klimaneutralität", die Grünen, die SPD und die Linke. Damit seien die Alleinstellungsmerkmale abhandengekommen.
Deshalb und erst recht nach dem abgebrochenen Parteitag schwelt die Grundsatzfrage nach dem Sinn des aufwändigen Unternehmens. Immerhin schwebt über ihm der Verdacht, es laufe im Kern darauf hinaus, den Grünen da und dort im Land so viel Wasser abzugraben, dass am Ende die CDU und eineR ihrer KandidatInnen die Nase vorne hat. Ein Beispiel ist der Wahlkreis Böblingen, den Thekla Walker, die finanzpolitische Sprecherin, 2016 mit gerade mal 37 Stimmen Vorsprung für sich entscheiden konnte. 2021 tritt die Klimaliste mit dem Gymnasiallehrer Marco Cinquemani gegen sie an. Der will "einen Beitrag leisten, politische Änderungen herbeizuführen". 2016 hätte er auf diese Weise gut und gerne dem CDU-Kandidaten Paul Nemeth zum Direktmandat verholfen, jenem Paul Nemeth, der die Photovoltaik-Pflicht auf allen Neubauten in seiner eigenen Fraktion nicht durchsetzen konnte, weshalb die Landesregierung auf eine Umsetzung der Grünen-Forderung verzichten musste. Realpolitik kann ganz schön vertrackt sein.
10 Kommentare verfügbar
Philippe Ressing
am 12.02.2021