KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Gefährdete gibt es immer noch

Gefährdete gibt es immer noch
|

Datum:

Zu Beginn der Pandemie war selbstverständlich: Die Gesundheit der gesamten Bevölkerung muss geschützt werden. Doch bei den Debatten um Lockerungen spielen die Risikogruppen kaum noch eine Rolle. Stephanie Aeffner, zuständig für die Belange von Menschen mit Behinderung im Land, will das nicht hinnehmen.

Am Anfang sei die Solidarität groß gewesen, sagt die Grüne: "Wir hatten die Bilder aus Italien und Spanien vor Augen von Militärlastwagen, die Leichen abtransportieren. Und von weinendem Krankenhauspersonal, das unter katastrophalen Bedingungen tragische Entscheidungen über Leben und Tod treffen musste." Vor diesem Hintergrund habe die Gesellschaft die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und den Lockdown in großer Mehrheit mitgetragen. Inzwischen allerdings bröckele die Solidarität mit den sogenannten Risikogruppen gewaltig. Der Schutz der Gesundheit der gesamten Bevölkerung werde allenfalls noch marginal diskutiert. "Das kann und das darf aber nicht so bleiben", sagt Stephanie Aeffner, seit 2016 Beauftragte der baden-württembergischen Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, im Kontext-Gespräch.

Die 44-jährige Diplompädagogin, selbst Rollstuhlfahrerin, ist gewohnt zu fordern, zu mahnen und aufzubegehren, "um den Menschen mit besonderen Belangen Gehör zu verschaffen, der Gesellschaft die Augen zu öffnen". Aktuell geht es ihr insbesondere um die Risikogruppen der Corona-Pandemie. In nächster Zukunft werde, wie Aeffner ausführt, schon allein aus wirtschaftlicher Perspektive sichtbar werden, wie wichtig diese Fragen sind – etwa wenn Arbeitskräfte fehlen.

Für den Bildungsbereich liegen erste Zahlen auf dem Tisch: 40 Prozent der ErzieherInnen im Land und zwischen 20 und 30 Prozent der Lehrkräfte werden für die Rückkehr zum klassischen Unterricht nicht oder nicht zur Gänze zur Verfügung stehen. Sie zählen zu den vom Robert-Koch-Institut definierten Gruppen mit Vorerkrankungen oder sie sind über 60 Jahre alt – von der Pflicht zur Präsenz an ihrem Arbeitsplatz sind sie deshalb befreit. Aber nicht nur PädagogInnen arbeiten von daheim, weil die Ansteckungsgefahr auch mit dem herkömmlichen Mund-Nasen-Schutz zu groß wäre. In der weit überwiegenden Zahl der guten alten Lehrerzimmer hat, auch infolge des hohen Anteils von Teilzeitlehrkräften, längst nicht mehr jede(r) einen eigenen Platz, sodass weder Hygiene- noch Abstandsregeln ernsthaft einzuhalten sind.

Aber auch viele andere Arbeitsplätze werden betroffen sein. Denn: "Wir reden von 22 bis 35 Millionen Menschen bundesweit, etwa von allen mit Atemwegsvorerkrankungen oder mit Muskelerkrankungen, alle Transplantierten, alle Immungeschwächten und so weiter." Und hinzu kommen alle aus der Kategorie 60 plus beziehungsweise 65 plus je nach Bundesland. "Wir können nicht ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung plus alle Angehörigen für das nächste Jahr zu Hause einsperren", betont sie. Dass die Einschränkungen große Härten mit sich gebracht haben, viele vor großen finanziellen Schwierigkeiten stehen, Familien sich nach der Öffnung von Schulen und Kitas sehnen und das Fehlen physischer Kontakte zu FreundInnen und Angehörigen psychisch stark belastet – das alles war und ist Stephanie Aeffner nur zu bewusst. "Seit sich die Debatten aber gedreht haben und Ministerpräsidenten sich in einem Überbietungswettbewerb, welches Bundesland als erstes zu einer scheinbaren Normalität zurückkehren kann, befinden, kommen aber auch Einschränkungen unter die Räder, die eigentlich niemandem wehtun." Ihr Beispiel ist das Maskentragen.

Perspektivwechsel gefragt

Garnicht verstehen kann es die Grüne vom linken Flügel der Partei, wenn sich an den Masken auch noch eine Debatte über Grundrechte entzündet. Individuelle Rechte reichten doch immer nur so weit, wie ein anderer dadurch in seinen Rechten nicht eingeschränkt werde. Es dürfe, "sagen wir einem Schüler mit Mukoviszidose, nicht freigestellt sein, ob er das Infektionsrisiko in Kauf nimmt, in die Schule zu gehen, oder lieber ein Jahr verliert". Schon die Vokabel freistellen sei "ganz falsch, weil der Kassiererin im Supermarkt, die wegen ihrer Asthmaerkrankung nicht arbeiten kann und massive finanzielle Einbußen hat – von der Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ganz zu schweigen –, nicht überlassen werden darf, ob sie arbeiten geht oder nicht". Das müsse in gemeinsamer Verantwortung geregelt werden. Wer nach dem Wie oder Warum fragt, drückt Aeffner verbal oder tatsächlich die UN-Behindertenrechtskonvention in die Hand. Die sei geltendes Recht in Deutschland, ein wichtiges Referenzdokument für alles Handeln des Staats. Der müsse insbesondere in Krisenzeiten dafür sorgen, dass sich die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung nicht verschlechtert und dass sie durch vermeintlich neutrale Regelungen nicht benachteiligt oder diskriminiert würden.

Neben solchen grundsätzlichen Appellen hat Aeffner aber auch praktische Ratschläge parat. Ginge es allein nach ihr, käme demnächst nicht nur eine ausgeweitete Maskenpflicht, sondern es würde auch die Produktion von medizinischen FFP-2-Masken rasch so hochgefahren, dass die gesamte Bevölkerung damit versorgt werden kann. Die Teilhabe von Menschen, die aus Gründen ihrer Vorerkrankung selber keinen Schutz tragen dürfen, sieht sie nur dann gesichert, wenn alle, mit denen sie zu tun haben, medizinische Masken trügen. An diesem Punkt macht sie kein Hehl aus ihrer Verwunderung über so manche Klagen, die in diesen Zeiten zu hören sind: "Was ist bitte die Einschränkung der Freiheit des einzelnen, ohne Maske draußen unterwegs sein zu dürfen, angesichts der Einschränkungen, die dieser große Teil unserer Bevölkerung erleidet, wenn wir nicht alle wieder füreinander Verantwortung tragen?"

Die Antwort, meint sie, ergebe sich doch wohl von selbst. Wenn alle die richtige fänden, hätte die Krise sogar ein Umdenken insgesamt eingeleitet, und endlich könnten sich Lebenswelten annähern. Nicht das Alter oder die Einschränkung mache Menschen mit Behinderungen aus, sondern der Umgang damit. "Mein Rollstuhl ist ein gutes Beispiel", erinnert sie sich, "viele Ärzte sagen: Schauen Sie auf jeden Fall, dass Sie nicht im Rollstuhl landen, da bauen die Muskeln noch mehr ab, dann können Sie gar nichts mehr machen." Das sei aber der falsche Blick und Blödsinn: "Der Rollstuhl ermöglicht Teilhabe, ich kann in der Stadt bummeln, ich kann in die Disco wie jeder andere Mensch." Gerade jetzt, mit Blick auf die Corona-Lockerungen, müsse dieser Perspektivwechsel, "von der Politik endlich aufgegriffen und sehr ernsthaft debattiert werden". Und von der Gesellschaft erst recht.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Mari Nu
    am 13.06.2020
    Antworten
    passend zum Thema aus FB gefischt und auf Wunsch weiterverteilt:

    „Schützt Du Dich! Dann schützt Du mich!“
    Ein Aktion der Liedermacherin Nadine Maria Schmidt.

    https://youtu.be/Iit7yizWcN4
    Nadine Maria Schmidt & Frühmorgens am Meer

    Die Risikogruppe zeigt Gesicht. Klappe die Zweite.
    Mit…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!