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Eine unendliche Geschichte

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Irgendwo müssen sie Pause machen, die Züge, die vielleicht irgendwann einmal Stuttgart 21 befahren. Deshalb braucht's im Vorort Untertürkheim einen riesigen Abstellbahnhof. Nach 16-jähriger Planung hofft die Bahn jetzt auf die Baugenehmigung. Und auf die Überlebenskünste geschützter Eidechsen.

Die Sängerhalle im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Denn das im Jahr 1905 errichtete Chorheim war nicht immer Ort für Feiern, Tanzstunden, Vereinstreffen und Gesangsproben. Im Ersten Weltkrieg diente das Gebäude als Lager für französische Kriegsgefangene, während des Zweiten Weltkriegs war es Unterkunft für russische Zwangsarbeiterinnen. Nach Kriegsende nutzte die amerikanische Militärregierung die Halle für den Kriegsverbrecherprozess gegen Hitlers Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht.

Vergangene Woche bot die Sängerhalle den Schauplatz für den Erörterungstermin zum Abstellbahnhof Untertürkheim, den die Deutsche Bahn im Rahmen von Stuttgart 21 bauen will. Zwei Tage lang wurde über das Für und Wider der geplanten 10,1 Hektar großen Rangier- und Waschanlage diskutiert. Diese soll den heutigen Wartungsbahnhof Rosenstein ersetzen, denn der lässt sich nicht an den künftigen Tiefbahnhof anschließen. An dessen Stelle soll ein neues Wohnquartier entstehen, die Fläche befindet sich schon seit Jahren im Besitz der Landeshauptstadt.

Beim Bau des Ersatz-Abstellbahnhofs in Untertürkheim, den die Züge im Ringsystem und aus beiden Durchfahrtrichtungen des Tiefbahnhofs erreichen können, scheint es die Bahn auf den ersten Blick einfach zu haben: Er ist auf einem ehemaligen Güterbahnhofgelände vorgesehen und im Gegensatz zu anderen S-21-Bauabschnitten braucht es dort keine aufwendigen Hoch- und Tiefbauten, weder Brücken noch Tunnels sind zu betonieren. Um die dort geplanten 23 Abstellgleise mit einer Gesamtlänge von knapp neun Kilometern legen zu können, müssen auf dem verwaisten Areal neben dem Daimler-Stammwerk "nur" 204 000 Kubikmeter Aushub bewegt, Dutzende Weichen eingebaut, eine knapp 300 Meter lange Waschhalle und ein Technikgebäude errichtet werden.

Lärm und tote Bienen

Dennoch gibt's Widerspruch. Beim Regierungspräsidium Stuttgart (RPS), das im Auftrag des Eisenbahnbundesamts (Eba) das Planfeststellungsverfahren durchführt, gingen 370 Einwendungen ein – "von denen 220 Mustereinwendungen waren", betonte Versammlungsleiterin Getrud Bühler vom RPS zum Erörterungsauftakt. Während Bau und anschließendem Betrieb der Abstellanlage befürchten Anwohner Lärm und die Umweltverbände NABU, BUND und LNV den Verlust wertvoller Biotope mit streng geschützter Fauna. Konkret: 4350 Mauereidechsen und eine unbekannte Anzahl von seltenen Wildbienen sollen auf dem Gelände leben, das seit rund zwei Jahrzehnten sich selbst überlassen ist.

Also "S-21-Business as usual" in der Sängerhalle, wie auf vorangegangenen Erörterungen anderer Bauabschnitte des Megaprojekts? Wütende Kritiker des Bahnprojekts auf der einen Seite, auf der anderen die Bahn, die nur rosarote Pläne präsentiert? "Nein, diesmal lief es normal und ruhig ab", sagt Hans-Peter Kleemann, Vize-Landesvorsitzender des NABU. Turbulente Szenen wie während der Erörterung zum Planfeststellungsabschnitt 1.3 im Herbst 2014, in dem es um die Anbindung von Stuttgart 21 an den Flughafen ging (und bei der sich die zunächst von der Bahn beantragte Planung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit als unrealisierbar herausstellte), blieben aus. Unter den Heerscharen der Bahn-, Behörden- und Verbändevertreter verloren sich die direkt betroffenen Anwohner im großen Saal der Sängerhalle. Versammlungsleiterin Bühler konnte die Veranstaltung sogar mangels Wortmeldungen Stunden früher als geplant beenden.

"Die starken Emotionen haben sich deutlich abgeschwächt. Inzwischen sind die meisten S-21-Bauwerke soweit gediehen, dass sie wohl auch in Betrieb gehen werden", erklärt sich NABU-Vertreter Kleemann die neue Sachlichkeit, die dem unübersehbaren Baufortschritt geschuldet ist. "Damit will ich aber nicht sagen, dass Tiefbahnhof und Neubaustrecke gute Projekte sind", ergänzt Kleemann, der weiß, von was er spricht. Als Fachmann für Verkehrsplanung und Artenschutz ist er schon seit den ersten Raumordnungsverfahren von Stuttgart 21 Mitte der Neunziger Jahre beteiligt.

Damals trat er erstmals als Sachverständiger für eine Kirchheimer Initiative auf, die wegen der großen Eingriffe in die Alblandschaft die Neubaustrecke (NBS) von Wendlingen nach Ulm ablehnte. Und sich stattdessen für ein drittes Gleis auf der Bestandstrecke durchs Filstal stark machte. Damals gingen 24.000 Einwände gegen die NBS ein, die inzwischen in weiten Teilen fertiggestellt ist. "Leider kämpften wir vergeblich, weil sich Gerichte nicht vorstellen konnten, dass ein Staatsunternehmen fatale Planungsmängel produziert", blickt Kleemann zurück auf eine Klage, die mit einer höchstrichterlichen Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht endete. Die damalige Deutsche Bundesbahn und ihr Chefplaner Ernst Krittian hatten den Bau der Schnellbahntrasse mit Zugzahlen begründet, die sich später als völlig überhöht herausstellten.

Keine Tricks mehr

Im aktuellen Planfeststellungsverfahren für den Abstellbahnhof Untertürkheim wollen die Naturschutzverbände der Bahn solch Tricksereien nicht durchgehen lassen. Beim Lärmschutz gab es gegenüber früheren Planungen immerhin deutliche Fortschritte, unter anderem, indem ein vorhandenes Durchfahrgleis für Güterzüge rund 100 Meter von der Wohnbebauung wegverlegt wird. Nach Aussagen der Bahngutachter werde es künftig weiträumig leiser in dem Stadtteil sein als früher. Nur an 17 Häusern rechne man in den oberen Stockwerken mit höheren Schalldruckpegeln, die beispielsweise mit Schallschutzfenstern auf zulässige Grenzwerte reduziert werden sollen.

Beobachter sehen allerdings den Natur- und Artenschutz als Damoklesschwert über dem Abstellbahnhof baumeln. So sollen alle Mauereidechsen auf zwei Bahnareale in Stuttgart umgesiedelt werden. Die Ersatzhabitate sind mit zusammen 4,7 Hektar jedoch nicht mal halb so groß wie der bisherige Lebensraum. Zudem leben dort bereits Artgenossen in unbekannter Zahl. Eine Überpopulation könnte aber etlichen der Umgesiedelten das Leben kosten und töten darf man sie eigentlich nicht. Auch deshalb hat die Bahn vorsorglich eine Ausnahmegenehmigung vom Tötungsverbot beantragt, das laut Gesetz für geschützte Tiere besteht. Dem will die Obere Naturschutzbehörde nicht widersprechen. Ein möglicher Verlust von Untertürkheimer Einzelindividuen sei vertretbar, weil er den Gesamtbestand der Stuttgarter Mauereidechsenpopulation von 140.000 Tieren nicht gefährde, heißt es in der Stellungnahme der Behörde, die Kontext vorliegt.

Sollte das Eisenbundesamt der Verbringung nicht zustimmen, hat die Bahn "hilfsweise" den Verbleib der Tiere auf dem Gelände des geplanten Abstellbahnhofs beantragt. Auf Deutsch: Die Tiere sollen dann gefälligst selbst schauen, wie sie während der mehrjährigen Bauphase und nach Inbetriebnahme der Anlage klar kommen.

"Mauereidechsen sind Zeigertiere", erklärt Artenschutzexperte Kleemann, also Lebewesen, die sehr sensibel auf Veränderungen in ihrer Umgebung reagieren. Über die Jahre hinweg hätten außerdem weitere seltene Lebewesen den stillgelegten Güterbahnhof besiedelt. So wurden 34 Wildbienenarten auf dem Areal nachgewiesen. Darunter die vom Aussterben bedrohten Sandrasen-Kegelbiene, die matte Natternkopf-Mauerbiene, Sand-Blattschneiderbienen und Blauflügelige Sandschrecken, die national geschützt sind. Zudem wurden seltene Heuschreckenarten entdeckt. "Was unter der Bodenoberfläche lebt, wird erst gar nicht beachtet. Wir verlieren durch den Abstellbahnhof nicht nur Mauereidechsen, sondern 50 bis 60 weitere Arten", sagt Kleemann. In Zeiten des Insektensterbens dürfe dies nicht ignoriert werden.

Insekten gegen Hainbuchen tauschen

"Die Bahn vernichtet nach ihren eigenen Unterlagen 7,3 Hektar Biotopfläche. Damit gehen wertvolle Lebensräume ohne Kompensation verloren", beklagt auch Wolf-Dietrich Paul vom BUND Kreisverband Stuttgart. Denn als Ausgleich dafür will die Bahn 1,5 Millionen Ökopunkte erwerben und damit die Aufwertung eines Eichen-Hainbuchenwaldes in Schwäbisch-Hall finanzieren. "Trocken-warme Lebensräume in Stuttgart durch Waldaufwertung woanders zu kompensieren, ist fachlich unvertretbar, auch wenn es rechtlich möglich sein sollte", lehnt Paul einen derartigen "Ablasshandel" ab. Der BUND sowie die Stadt Stuttgart hätten Alternativvorschläge zum Schutz der Fauna unterbreitet, die der Bahn seit langem vorlägen. Warum diese nicht umgesetzt werden, habe die Bahn trotz mehrfacher Nachfrage während des Erörterungstermins nicht erläutert, sagt Paul. Aus Sicht der Naturschützer sei die Erörterung deshalb unbefriedigend verlaufen. "Ich rechne mit einem Rechtsstreit, wenn die Bahn sich nicht bewegt", kündigt NABU-Vertreter Kleemann an, gegen eine Genehmigung klagen zu wollen.

Damit droht der Untertürkheimer Abstellbahnhof endgültig zur unendlichen Geschichte zu werden. Denn der erste Bauentwurf stammt auf dem Jahr 2004. Diesen zog die Bahn im Jahr 2010 im Zuge der Finanzierungsvereinbarung zurück. 2014, als sich bereits milliardenschwere Kostensteigerungen für Stuttgart 21 ergeben hatten, präsentierte der Schienenkonzern modifizierte Pläne, die durch den Verzicht auf teure Überwerfungsbauwerke rund 100 Millionen Euro einsparen sollten. Doch auch diese Pläne ließ der Konzern wieder fallen, weil die Lärmbelastung der Anwohner zu groß geworden wäre. Der dritte Bauantrag, aus dem Jahr 2016, scheiterte an der geplanten Umsiedlung von Mauereidechsen in einen Esslinger Weinberg. Wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte, befand sich dort bereits eine große Zauneidechsenpopulation, die ebenfalls europarechtlich streng geschützt ist. Das aktuelle Verfahren ist somit der vierte Anlauf, den Abstellbahnhof in trockene Tücher zu bekommen. Gibt das Eba grünes Licht, will die Bahn Ende 2021 mit dem Bau beginnen.

Ohne den Untertürkheimer Abstellbahnhof sei im neuen Stuttgarter Durchgangsbahnhof weder ein leistungsfähiger noch wirtschaftlicher Betrieb möglich, betonte Florian Bitzer von der S-21-Projektgesellschaft während der Erörterung. Denn dann "müssten wir Geisterzüge ganz weit durch die Region fahren, um sie abstellen zu können". Dennoch werde man den Tiefbahnhof auch in Betrieb nehmen, wenn der Abstellbahnhof nicht bis zu Inbetriebnahme von Stuttgart 21 Ende 2025 fertiggestellt sei, kündigte Bitzer an. Offenbar rechnet die Bahn bereits mit weiteren Verzögerungen durch Klagen von Naturschützern.


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5 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 26.01.2020
    Antworten
    Wenn der Bahnlärm so schlimm ist, dann freuen wir uns doch alle, dass dieser Lärm dank S21 in Zukunft deutlich verringert wird.
    Der Großteil des Lärms ist un Zukunft unter der Erde. Die Stadt und die Region atmet auf. Alle freuen sich auf die Ruhe im Park wo heute noch im Minutentakt die Züge…
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