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"Jetzt ist Lieferando"

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Nicht einmal 30 Prozent aller Parteimitglieder konnte das siegreiche Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans für sich gewinnen. Und die SPD hat sich in die Bredouille manövriert. Denn Drinbleiben in der GroKo ist fatal, der Ausstieg ist es aber ebenfalls.

Wenn er gut läuft, der Bundesparteitag an diesem Wochenende in Berlin, dann bringt er mit Ach und Krach eine Schadensbegrenzung zustande. Geplant war das ganz anders. Ende August hatten acht Teams und ein aussichtsloser Einzelkandidat ihr Interesse am "schönsten Amt neben Papst" (Franz Müntefering) angemeldet. Das Verfahren wurde hochgejubelt, die 23 Regionalkonferenzen in der ganzen Republik waren bemerkenswert gut besucht, einige sogar übervoll, an Versprechungen gab es keinen Mangel. "Die SPD hat jetzt die Wahl: Weiter so! oder Neuanfang?", hatte das Tandem Esken/Walter-Borjans in seiner Bewerbung geschrieben, "wir wollen den Neuanfang!" Und weiter: "Wir wollen der SPD das zurückgeben, was viele an ihr vermissen: Standhaftigkeit und Glaubwürdigkeit!"

Seit vergangenen Samstag, 18 Uhr, ist zu beobachten, wie die beiden mühsam versuchen, Anspruch und Wirklichkeit in Deckung zu bringen. Die Latte liegt auf Weltrekordhöhe. "Jetzt ist Lieferando", kommentiert ein Juso nur wenige Minuten nach Bekanntgabe des Ergebnisses im Willy-Brandt-Haus. Die digitale und die reale Welt der Roten quillt über in einer Mischung aus Skepsis, Erwartungen und guten Ratschlägen. Die SPD-Kreisvorsitzende in Freudenstadt, Viviana Weschenmoser, eine Unterstützerin des Gewinner-Teams, beklagt in der FAZ "das lange Verteidigen von Kompromissen" und hofft, dass der Parteitag "Saskias Empfehlung folgt, die Groko zu verlassen: Einmal runterrasieren, und dann Ciao Kakao".

Die Angst geht um in der SPD: Was passiert beim Parteitag?

Esken steht vor allem beim Nachwuchs im Wort. Unter GenossInnen im Landesverband, in dem sie bisher keine große Rolle spielte, wird geraunt, dass die 58-Jährige eigentlich an der Seite von Kevin Kühnert kandidieren wollte. Der Juso-Chef allerdings machte persönliche Gründe für seinen Verzicht geltend, wie er Anfang September mitteilte. Außerdem habe er der SPD "ein großes Duell um die Frage, welcher Platzhirsch setzt sich durch" ersparen wollen. Das war im "Morgenmagazin" von ARD und ZDF, ein paar Stunden vor der ersten von 23 Regionalkonferenzen, die der Juso-Chef mit dem Hinweis auf 80 000 Jungsozialisten befeuerte und mit unzweideutiger Werbung für die späteren Sieger. Speziell für Esken, die in der vorangegangenen Diskussion um Upload-Filter "einen deutlichen Einsatz gezeigt hat für die Freiheit im Netz an der Seite vieler junger Menschen, während sich andere von Lobbyinteressen beeinflussen ließen".

Jetzt hängt sehr viel am Verlauf des Parteitags, der mit einer Satzungsänderungsdebatte beginnt. Laut Paragraph 23 sieht das Organisationsstatut bisher die Wahl eines Vorsitzenden oder einer Vorsitzenden vor. Ergänzt werden muss nun: " ... oder zwei gleichberechtigten Vorsitzenden, davon eine Frau". Benötigt wird dafür eine Zweidrittelmehrheit, ein erster Stimmungstest zeichnet sich ab. In vielen Kreisverbänden, auch im Südwesten, geht die Angst um, dass sich das Ergebnis des Mitgliederentscheids nicht widerspiegelt in der Zusammensetzung der Delegierten. "Wir haben uns Klarheit versprochen", sagt ein Genosse aus dem Remstal, "und Unsicherheit bekommen." Ohne einen "beispiellosen starken Auftritt" würden die designierten Vorsitzenden "kein überzeugendes Ergebnis und die Partei nicht hinter sich bekommen". Alles unter 70 Prozent "wäre fatal".

Kurz-Parteichef Schulz will das Chef-Duo unterstützen

Einer, der sich trotz eines 100-Prozent-Ergebnisses bei seiner Wahl zum Parteichef nicht lange an der Spitze der nur schwer kalkulierbaren alten Tante SPD halten konnte, hat dem Duo öffentlich Unterstützung versprochen. Der Zustand, in dem Martin Schulz seine Partei sieht, beschreibt zugleich aber die Herkulesaufgabe, die Esken und NoWaBo schultern müssen. Denn die SPD, so der gefallene Heilsbringer im Berliner "Tagesspiegel", sei "zu einer Drei-Botschaften-Partei geworden". Es gebe immer die offizielle Linie durch Beschluss von Parteitag oder Vorstand, das sei die erste Botschaft. "Sobald diese Entscheidung gefallen ist, meldet sich prompt ein Drittel der SPD lautstark mit der Botschaft zu Wort, die Beschlüsse gingen nicht weit genug", weiß Schulz aus schmerzlicher Erfahrung, "worauf ein weiteres Drittel verkündet, alles gehe viel zu weit. Mit drei widersprüchlichen Botschaften und einer permanenten inneren Unzufriedenheit kann man aber niemanden überzeugen und erst recht keine Wahl gewinnen."

Der 63-Jährige, der die Sozialdemokratie im Winter 2017 kurzfristig in eine Euphorie versetze, in der nicht einmal mehr die vielbeschworene und so mühsame Aufarbeitung der Hartz-IV-Vergangenheit eine Rolle spielt, weiß zudem, wie schwer eine einzige, nicht korrigierte Fehlleistung wiegen kann. Nach einem Frage-Antwort-Hin-und-Hin mit einem "Welt"-Journalisten schließt er bei einer Pressekonferenz am Tag nach der Bundestagswahl definitiv aus, jemals in ein Kabinett Angela Merkel einzutreten.

Hätte, hätte, Fahrradkette: Hätte der eigentlich mit so vielen Wassern gewaschene frühere Präsident des EU-Parlaments diesen Satz zwei Monate später offensiv und nachvollziehbar korrigiert, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Partei in die GroKo drängte, wäre er mit einiger Wahrscheinlichkeit bis heute Parteichef und Vizekanzler. Tatsächlich ist Schulz längst einfaches MdB und seine SPD, die er in der Demoskopie über die 30 Prozent hob, auf Werte unter 15 abonniert. Die Fehlerkorrektur unterblieb, seine innerparteilichen Gegner, allen voran übrigens Olaf Scholz, mochten dem dann schon Noch-Vorsitzenden nicht aus der Patsche helfen. Im Februar 2018 und nach nur elf Monaten trat er zurück.

Luftholen ist immer gut

Das jetzt designierte Nachnachfolger-Duo könnte viel lernen aus diesem Vorgang. Vor allem Esken, die einmal im Bundestagswahlkampf mit einem Baum durch die Straßen zog, an den BürgerInnen ihre Wünsche hängen konnten, müsste ihr auf mehreren Regionalkonferenzen und Rückfragen gegebenes Versprechen relativieren, die Große Koalition ganz bestimmt zu beenden. Zumal ein Szenario immer wahrscheinlicher wird: Da der Bundestag vergangenen Freitag den Haushalt für das Jahr 2020 verabschiedet hat, könnte die Union bei einem Ausstieg der SPD die freiwerdenden Ministerien nachbesetzen, eine Minderheitsregierung bilden und die deutsche EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 als prächtiges Werbemittel nutzen. "Wir sitzen da und schauen zu, wie unsere Erfolge greifen und die Unionsbilanz aufhübschen", warnt ein sozialdemokratischer Kommentator.

Wird aber die "Eskabolation", wie die neue Wortschöpfung für diese Wende heißt, doch nicht vollendet, droht anderes Unbill. Der Teil des eigenen Anhangs, der die Nase voll hat von der GroKo, würde vom Bleiben massiv vergrätzt, wegen "Standhaftigkeit und Glaubwürdigkeit". Als am Dienstag das Präsidium die komplizierte Lage beriet, wollte zunächst niemand das Wort ergreifen. Auch die voraussichtlich neue Vorsitzende, eine Vieltwitterin übrigens, die in Sitzungen selten ohne Handy in der Hand zu sehen ist, hielt sich bedeckt. Allerdings retweetete sie einen Post von ihrem Gönner Kühnert, der jetzt wenigstens Stellvertretender SPD-Vorsitzender werden will. Kühnert hatte auf den Hinweis von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, eine Regierung sei keine Therapieeinrichtung für die beteiligten Parteien und der Koalitionsvertrag deshalb in Geltung, mit einem beruhigenden "Einatmen, Ausatmen" reagiert. Luftholen ist immer gut.


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3 Kommentare verfügbar

  • Dr. Uwe Prutscher
    am 05.12.2019
    Antworten
    Wenige werden derzeit die Haut tauschen wollen mit Frau Saskia Esken und "NoVWaBo". Und doch: da müssen wir mit ihnen durch - nicht nur die Verantwortlichen der SPD. Täusche sich Niemand in der Schwäbin und in dem in seiner Amtszeit mutigen NRW- Finanzminister! Da mag sich ein eitler Herr…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 12 Stunden
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