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Ist das Volk zu doof?

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Was darf die direkte Demokratie? Im Auftrag von Thomas Strobl bereichert der Staatsrechtler Ferdinand Kirchhof den juristischen Streit über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens um eine spezielle Facette: Er spricht der Zivilgesellschaft die Professionalität ab, grundsätzliche Begehren überhaupt stellen zu können. 

Winfried Kretschmann hatte ziemlich genaue Vorstellungen, als er 2011, wenige Wochen vor seiner ersten Wahl zum Ministerpräsidenten, erstmals seine "Politik des Gehörtwerdens" skizzierte. Er wollte Baden-Württemberg "nicht zum größten Debattierklub Deutschlands" machen, aber Stil, Umgang und Sprache verändern, eine "selbstbewusste Zivilgesellschaft einbinden", auch und gerade in "komplexe Fragen". Denn es könne nicht sein, "dass die Straßen der Interessenverbände und Lobbys in den Parlamenten immer breiter und geschmierter werden, und die Bürgergesellschaft hat noch nicht einmal einen Trampelpfad". 

Aktuell steht an dem sogar ein Stoppschild. Der allein zuständige Innenminister und CDU-Landeschef lehnte den mit 17 000 Unterschriften unterfütterten Antrag der SPD auf die erste direktdemokratische Entscheidung nach der parteiübergreifend veränderten Landesverfassung ab. Zunächst ließ Thomas Strobl sich beraten vom Verwaltungsrechtler Winfried Porsch, der das Volksbegehren für unzulässig hält: Weil über Abgabengesetze nicht direktdemokratisch entschieden werden dürfe, weil allein das Parlament die Budgethoheit besitzt, weil dem Land gar keine Gesetzgebungskompetenz mehr obliege angesichts des neuen "Gute-Kita-Gesetz" der Bundesregierung. 

Wirklich zufrieden stellte den Minister Strobl, bekanntlich selber Jurist, die Argumentation ganz offensichtlich nicht. Denn er beauftragte noch einen Gutachter, eben jenen renommierten früheren Bundesverfassungsrichter Ferdinand Kirchhof – natürlich in der Erwartung, der werde sein Veto ebenfalls stützen, gegen das die SPD inzwischen vor dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg klagte. Die Gesamtkosten der externen Beratung bisher liegen übrigens bei gut 63 000 Euro. Kirchhofs 34 Seiten tragen des Datum 16. April, sollten eigentlich unter Verschluss bleiben, machen inzwischen aber dennoch die Runde. 

Das Gutachten ist kein Gefälligkeitsgutachten, sagen die Nutznießer

Der zweite Gutachter kommt ebenfalls zu dem Schluss, der SPD-Antrag sei zu Recht abgelehnt worden, wenn auch in Teilen aus anderen Gründen. "Das Gutachten ist kein Gefälligkeitsgutachten", schreibt das Innenministerium – überraschenderweise – selber in einem Abgleich der Argumente. Aber es liefert frei Haus und deutlich hinausgehend über den eigentlichen Streitgegenstand ("Vereinbarkeit des Volksbegehrens ‚Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege‘ mit dem Grundgesetz und der Landesverfassung") grundsätzliche Überlegungen zum spannenden Thema Volk und Demokratie. Dabei scheut der Verfasser vor skeptischen Einschätzungen des Souveräns nicht zurück. 

Ganz im Gegenteil: Dem Volk fehlt aus seiner Sicht nämlich "in der Regel die repräsentative Distanz und langfristige Professionalität in der Politik". Zu den Problemen der direkten Demokratie, "welche in Volksbegehren und -abstimmung realisiert werden", gehöre es, dass Einzelprojekte "in Öffentlichkeit und aktueller Diskussion eine momentane Bedeutung und Dringlichkeit gewinnen könnten, die nicht ihrem tatsächlichen, sachlichen Gewicht entsprechen". Und weiter: "Die Finanzierbarkeit wird dann meist nicht mehr abwägend mit anderen Staatsaufgaben berücksichtigt, sondern unbefragt als gegeben vorausgesetzt." Als träfe dieser Satz beispielsweise im Zusammenhang mit Stuttgart 21 nicht exakt auf jene zu, die dem Volk mit einem Riesenwerbeaufwand gerade in Fragen der Finanzierung erfolgreich Sand in die Augen gestreut haben – aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls liegt Strobl und seiner CDU jetzt diese prominente und zugleich brisante Einschätzung vor, wonach das Risiko besteht, dass Mehrheiten sich per Volksabstimmung "zu Lasten von Minderheiten finanzielle Sondervorteile verschaffen", (…) "dass die Finanzen beim Parlament besser aufgehoben sind und vom Volk oft vergessen oder geringgeachtet werden". Und dass außerdem VolksvertreterInnen ohnehin deutlich besser als die Bevölkerung in der Lage sind, "Prioritäts- und Posterioritätsentscheidungen zu treffen".

Der Union hat die ganze Richtung der "Politik des Gehörtwerdens" nie gepasst. Unvergessen sind die spöttischen, wenn nicht höhnischen Zwischenruf-Kaskaden aus den Reihen der Oppositionsfraktion CDU während der vergangenen Legislaturperiode, wenn Kretschmann über schwierige Abwägungsprozesse sprach und erst recht, als Grün-Rot den Nationalpark Nordschwarzwald durchsetzte, ohne die Bürgerschaft in den betroffenen Gemeinden abstimmen zu lassen –  nach Recht und Gesetz ist der Landtag dafür zuständig, nicht das Volk. Und die Verfassungsänderung zur Erleichterung der Volksgesetzgebung samt Absenkung der Quoren war eine Hängepartie und forderte einen hohen Preis: Gerade die Schwarzen stimmten nur unter der Bedingung zu, dass das hochumstrittene Landtagswahlrecht blieb, wie es war und bis heute ist. 

Nur über ausreichend unterkomplexe Themen abstimmen lassen?

Wenn jetzt, eineinhalb Jahre vor Ausbruch des nächsten Landtagswahlkampfs, derart fundamentale Einwände gegen direkte Demokratie vorgebracht werden, lässt dies nichts Gutes erwarten. Das Staatsministerium hält jedenfalls nichts von den Kirchhof-Einschätzung und weiter an dem Mehr an Beteiligung fest. Mit dem wollte Kretschmann zusätzlich erreichen, "dass der Bürgerwille auf uns zurückwirkt". Seine Überlegung: "Müssen Volksvertreter nicht anders agieren, wenn das Volk Themen an sich ziehen und sogar entscheiden kann?" Jetzt gilt es allerdings erst einmal, einen Rückschritt zu verhindern. Denn nicht nur Sozialdemokraten sehen die Gefahr, dass der "Endpunkt der Politik des Gehörtwerdens" erreicht ist, wenn, wie in Kirchhofs Gutachten "Bürgerinnen und Bürger für unmündig erklärt werden", so der Landes- und Fraktionschef Andreas Stoch.

Dazu werden, Kirchhofs Maßstab angelegt, jene Veränderungen unmöglich, über die Grünen-Fraktionsvize Uli Sckerl bereits mehrfach laut nachgedacht hat für den Fall, dass auch der Verfassungsgerichtshof den SPD-Antrag als unzulässig zurückweist. Das Parlament werde "neu nachdenken müssen, sollten Volksbegehren tatsächlich maßgeblich beschränkt werden auf eine Art und Weise, dass es keine relevante Gestaltungsmöglichkeit des Volksgesetzgebers gibt". Eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit im Landesparlament ist allerdings weit und breit nicht in Sicht. 

Vom Verfassungsrechtler distanziert sich Sckerl auf Anfrage noch deutlicher: Volksbegehren und -entscheide auf Landes- und kommunaler Ebene seien für seine Partei feste Bestandteile und sinnvolle Ergänzungen der parlamentarischen Demokratie. "Direkte Bürgerbeteiligung stärkt den Dialog zwischen Politik und BürgerInnen", sagt Sckerl, denn die BürgerInnen hätten "x-fach längst bewiesen, dass sie über unterschiedlichste Sachverhalte selbst entscheiden können und dafür bereit sind, Verantwortung zu übernehmen". Es könne nicht sein, "dass Volksabstimmungen für die Bürgerinnen und Bürger nur eine nette Spielwiese sind, wo sie darüber abstimmen, ob die Sonne scheint oder ob es regnet". Wie der SPD, den AktivistInnen von "Mehr Demokratie", wie überhaupt einer Zivilgesellschaft, die sich einmischen will, bleibt auch Sckerl vorerst nur die Hoffnung auf den Verfassungsgerichtshof. Der wird am 21. Oktober mündlich verhandeln, irgendwann in der ersten Jahreshälfte 2020 entscheiden und, wie der Grüne erwartet, "einen konstruktiven Beitrag leisten". 

Deutlich früher muss Strobl allerdings über den zweiten Antrag seiner Art hirnen:  Am 26. Juli wollen die InitiatorInnen der baden-württembergischen Variante des bayerischen "Rettet-die-Biene"-Volksbegehren ihren Gesetzentwurf vorlegen, rund 18 000 Unterschriften sind bereits gesammelt. Wieder hat das Innenministerium allein zu entscheiden, fristgerecht, weshalb das Kita-Urteil des Verfassungsgerichtshof keine Rolle spielen kann. Die Forderungen sind – auf den ersten Blick – deutlich weniger finanzrelevant als der Komplettverzicht auf Eltern-Gebühren, der den Kommunen vom Land refundiert werden müsste.

Aber was ist, wenn Ausgleichszahlungen an die Landwirtschaft hochgerechnet werden? Etwa wegen der verlangten Pestizidreduktion. Oder weil die Landesregierung – sollten sich die UnterstützerInnen wie in Bayern durchsetzen – so viel Geld in die Hand nehmen müsste, dass bis 2035 nicht weniger als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Flächen ökologisch bewirtschaftet werden. Der Strobl-Berater Kirchhof sieht das Volk vor allem dann am Zug, "politische Vorschläge zur Gesetzgebung" zu unterbreiten, wenn "die sich mit sachlichen oder personellen Problemen ohne erhebliche finanzielle Konsequenzen befassen". Mal sehen, ob das Begehren, die Bienen und mit ihnen die Welt zu retten, unterkomplex genug ist.


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9 Kommentare verfügbar

  • Jürgen Mollik
    am 25.06.2019
    Antworten
    Das Kirchh-gutachten ist ein Gefälligkeitsgutachten, weil es nicht einen neutrale Fragestellung gab. Es ist also nur eine pers. Rechtsauffassung.
    Letztendlich bedeutete diese Rechtsauffassung, dass der nicht professionelle Bürger auch nicht in der Lage ist, abzuwägen, wem er seine Stimme bei Wahlen…
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