Claudia Roth soll mit den Tränen gekämpft haben. Es gehört zum Markenkern der Parteilinken, ihren Emotionen schneller als andere freien Lauf zu lassen. Und jetzt, in diesem Moment in der baden-württembergischen Landesvertretung kurz nach Mitternacht, als die FDP ausgezogen ist und die Ergebnisse der wochenlangen Arbeit zusammenbrechen wie ein Kartenhaus? Jetzt mischt sich Stolz in die Enttäuschung. "Frau Roth", resümiert Kanzleramtsminister Peter Altmaier, "Sie waren wunderbar." Da ist ein gutes Stück zusammengewachsen, was doch eigentlich gar nicht zusammengehört – jedenfalls aus der Sicht der alten Fundis, von Canan Bayram aus Berlin-Kreuzberg, die das bundesweit einzige Direktmandat geholt hat bei der Bundestagswahl und von Anfang an gegen die Schwampel war, bis hin zu vielen aus dem Parteinachwuchs ("jung.stachelig.grün").
Über ungezählte Stunden hatte Roth den Migrationskompromiss auszuhandeln versucht. Bekannt ist inzwischen, wie weit die Grünen zu gehen bereit waren. Ausgerechnet Baden-Württembergs Innenminister <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne strobl-4726.html _blank external-link>Thomas Strobl (CDU) lobt die Bundestagsvizepräsidentin zwei Tage danach ausdrücklich dafür, dass sogar über weitere sichere Herkunftsländer im Maghreb Einigkeit bestanden habe, und muss sich sofort von seinem Ministerpräsident korrigieren lassen. "Nach unserem Modell und mit vulnerablen Gruppen", sagt Winfried Kretschmann. Und schickt ein "Das muss ich sagen, sonst bekomme ich Schwierigkeiten" hinterher.
Das Eis ist dünn, auf dem sich die grünen Verhandler bewegt haben und noch immer bewegen. Einerseits gilt, wie der Jamaika-geübte Lübecker Robert Habeck nicht unzufrieden feststellt: "Wir haben den Tisch nicht verlassen." Andererseits wird immer mehr publik von dem, was "konsentiert" (Kretschmann), also abgestimmt war, bis hin zum atmenden Rahmen oder Deckel in Sachen Migration. "Hey, Jugend, ich würde mich freuen, ihr hättet mehr Einfluss auf eure Senioren, dann würde ich euch wiederwählen", kommentiert ein Enttäuschter im Netz das "unverantwortliche Entgegenkommen". Eine Kritik, die Kretschmann nicht gelten lassen will, weil doch in den vergangenen Tagen und vor allem am Wochenende bewiesen worden sei, dass die Grünen es ernst meinten mit dem Grundsatz, wonach zuerst der Staat komme und dann die Partei.
Die angebotenen Kompromisse streicht selbst Trittin heraus
Auch aus den Kreisverbänden kommen in Stuttgart klare Botschaften über die Rollenverteilung im "Blame Game" an: Die eigenen Verhandler die Guten, die FDP dagegen "ist die Partei der Verantwortungslosigkeit", wie Fraktionschef Andreas Schwarz die Debatte zusammenfasst. "Wenn zwei das Gleiche tun, dann ist es noch lange nicht dasselbe", sagt ein Abgeordneter: Gerade "solche Typen wie Christian Lindner hätten, wenn die Sondierungen durch uns geplatzt wären, versucht, die Republik aus den Angeln zu heben". Und Oliver Hildenbrand, der Landesvorsitzende vom linken Flügel, persifliert einen FDP-Wahlkampfslogan: "Lindner first. Land second."
Inhaltlich werden wie auf einer Perlenschnur die angebotenen Kompromisse aufgereiht, inklusive der grün-schwarzen Dauerstreitthemen wie Pestizideinsatz in der Landwirtschaft. "Wir hätten unseren Kinderzuschlag umgesetzt, wir hätten eine Vereinbarung gehabt, um alle Waffenlieferungen an die im Jemen kriegführenden Parteien zu stoppen, wir waren uns einig bei den Finanzen", streicht selbst Jürgen Trittin unermüdlich in vielen Interviews heraus. Und dass die CDU in Sachen Vorratsdatenspeicherung nachgegeben hat. Fast wortgleich werden Annäherungen gelobt und Unterschiede, um die zurückgelegte Wegstrecke zu illustrieren. "Wer meint, alle Parteien seien gleich, dem empfehle ich einige Tage Jamaika-Verhandlungen", sagt auch Angela Merkel an die Adresse der unzähligen Verächter des real existierenden Politikbetriebs.
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Horst Ruch
am 23.11.2017