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In welcher Welt wollen wir leben?

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Fördert Baden-Württemberg, wie die AfD meint, einen "Erinnerungstourismus" zu "entlegenen Gedenkstätten im fernen Ausland wie Gurs in den Pyrenäen"? Sibylle Thelen von der Landeszentrale für politische Bildung gibt Auskunft.

Bundesweit hat der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke für Empörung gesorgt, als er meinte, durch das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus werde "die deutsche Geschichte mies und lächerlich gemacht". Jörg Meuthen, der baden-württembergische Fraktionsvorsitzende, gibt sich da deutlich moderater. In der Gedenkfeier des Landtags zur Befreiung von Auschwitz am 27. Januar applaudiert er artig der Landtagspräsidentin Muhterem Aras, selbst als sie den Vereinfachern und neuen Nationalisten den Kampf ansagt.

Doch zugleich bedient Meuthen sehr deutlich nationalistische Ressentiments, wenn er sich in einer Pressemitteilung zitieren lässt: "NS-Geschichtsbewältigung fängt in der Heimat an." Es müsse "erlaubt sein zu fragen, inwieweit sich das Camp de Gurs überhaupt für die deutsche Erinnerungskultur eignet. Es steht uns nicht an, die Erinnerung an ein Lager wachzuhalten, das unter ständiger französischer Verwaltung stand und in dem nach Kriegsende vor allem deutsche Kriegsgefangene interniert waren."

310 deutsche Kriegsgefangene waren nach Wikipedia von der Befreiung Frankreichs Ende August 1944 bis zur Auflösung des Lagers Ende 1945 in Gurs inhaftiert. Wenige im Vergleich zu den 1585 Kollaborateuren des Naziregimes und den 1475 Gegnern des spanischen Diktators Francisco Franco, die dort zur selben Zeit noch festgehalten wurden. Noch viel weniger im Vergleich zu den 25 000 Franco-Gegnern, für die das Lager im April 1939 ursprünglich eingerichtet worden war, und erst recht zu den insgesamt mehr als 60 000 Menschen, die dort bis zur Befreiung interniert waren.

Auch Hannah Arendt war in Gurs interniert

Sibylle Thelen, die in der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) seit 2011 den Fachbereich Gedenkstätten leitet, kann über die Aussagen der AfD nur den Kopf schütteln: "Auf dem Friedhof beim ehemaligen Lagergelände liegen jüdische Bürger aus Baden begraben, die den nationalsozialistischen Deportationen zum Opfer fielen", sagt sie und erzählt von der Geschichte des Lagers.

6504 jüdische Bürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden im Oktober 1940 in kürzester Zeit in das Pyrenäendorf verfrachtet. Die Gauleiter von Baden und Kurpfalz, Robert Wagner und Josef Bürckel, wollten sich damit hervortun, dass ihre Gaue als erste im Deutschen Reich "judenfrei" waren. Alte Menschen und Kranke überlebten kaum den Transport. "Etwa tausend von ihnen starben dort innerhalb eines Jahres aufgrund der miserablen Bedingungen in dem völlig überfüllten Lager", weiß Thelen.

Doch auch den anderen erging es oft nicht viel besser: "Ein großer Teil wurde mit einem der Transporte, die im August 1942 begannen, von Gurs, meist über das Durchgangslager Drancy bei Paris, in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet. Weitaus weniger konnten sich durch Flucht aus dem Lager Gurs und durch Emigration retten."

Alles in allem waren in Gurs mehr als 17 000 Juden interniert, darunter berühmte Persönlichkeiten des deutschen Kulturlebens wie Hannah Arendt, der Schriftsteller Jean Améry, Lion Feuchtwangers Frau Marta, Alexandra Ramm-Pfemfert, die Frau von Franz Pfemfert, dem Herausgeber der expressionistischen Literaturzeitschrift "Der Sturm", aber auch "Politische" wie der Sänger Ernst Busch und seine Frau Eva.

"Auf dem Deportiertenfriedhof befinden sich 1073 Gräber", so Thelen weiter, "in denen Opfer des NS-Terrors vor allem aus Baden, der Pfalz und dem Saarland sowie einige internierte Spanienkämpfer ruhen. Der Verband der jüdischen Gemeinschaften der Basses-Pyrénées errichtete schon im Jahr 1945 ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer in Gurs. Doch der Friedhof begann zu verwildern."

In dem Band "Entrechtet – verfolgt – vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten", den die LpB <link https: www.lpb-bw.de external-link-new-window>gratis zum Download anbietet, verfolgt Angela Borgstedt die Geschichte weiter. Sie schreibt: "Erst ein Artikel des Karlsruher Journalisten Peter Canisius 1957 in der Badischen Volkszeitung mobilisierte die Lokalpolitik. Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum, so der Tenor, hätten begangenes Unrecht vergessen lassen, die Nachkriegsgesellschaft belaste damit eine ,zweite Schuld' des Verdrängens und Vergessens."

Der Karlsruher Oberbürgermeister Günther Klotz nahm sich der Sache an, unterstützt vom Vorsitzenden des Oberrats der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, Otto Nachmann. In Verhandlung mit französischen Behörden und Geldgebern erreichte er eine Instandsetzung des Friedhofareals, das im März 1963 eingeweiht werden konnte. Die badischen Städte, Gemeinden und Kreise, aus denen jüdische Bürger nach Gurs deportiert und dort begraben worden waren, brachten die Gesamtkosten der Neugestaltung auf.

"Gleichgültigkeit gegenüber dem Teuflischen"

"Millionen Menschen haben Grund, sich wegen der rassischen Verfolgung zu schämen", unterstrich Klotz in einer Rede am 26. März 1963: "Aber ich darf auch sagen, dass diese Scham im deutschen Volk vorhanden ist und dass besonders die Jugend nicht begreifen kann, was ihre Eltern zugelassen haben. Es stimmt, dass viele nichts gewusst haben, aber viele wollten auch nichts wissen und wollten ihr Gewissen auch nicht belasten. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Teuflischen, solange man selbst nicht betroffen ist, ist Schuld und gebietet Scham."

Den Friedhof von Gurs übergab der französische Staat damals für 99 Jahre dem Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden. 120 000 Euro im Jahr investiert nun das Land Baden-Württemberg in den Erhalt der Gräber und die Erinnerung an die nach Gurs deportierten Juden aus Baden, wie das Kultusministerium auf Anfrage mitteilt.

Aber nicht nur in Gurs selbst fördert das Land das Gedenken an die Deportation, sondern auch an zahlreichen Orten im badischen Landesteil. So zeigt in Freiburg, auf Anregung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, seit 2000 ein Wegweiser am Platz der Alten Synagoge die Entfernung nach Gurs an. Und seit 2003 erinnert ein "vergessener Mantel" aus Bronze, der wie zufällig hingeworfen auf der Brüstung der Wiwilí-Brücke über die Gleisanlagen des Freiburger Hauptbahnhofs liegt, an die deportierten Juden.

In Neckarzimmern startete 2005 ein <link http: www.mahnmal-neckarzimmern.de external-link-new-window>Jugendprojekt der Evangelischen Landeskirche, das sämtliche Orte in Baden miteinander verbindet, aus denen Juden nach Gurs deportiert wurden. Jugendgruppen und Schulklassen waren aufgefordert, sich mit der Geschichte der Deportation in ihrer Gemeinde zu beschäftigen und je zwei Gedenksteine zu gestalten: einen für ihren Ort; den zweiten, um ihn auf einem großen Davidstern in Neckarzimmern aufzustellen. Im Moment fehlen nur noch wenige der 137 Gemeinden. Einen 138. Stein hat der Freundeskreis beigesteuert, der die Gedenkstätte in Gurs betreut. Die Franzosen waren sofort begeistert, als sie von der Initiative hörten. Thelen stellt fest: "Die Geschichte des deutschen Südwestens ist mit der Geschichte von Gurs unauflöslich verbunden."

Mehr als 60 <link http: www.gedenkstaetten-bw.de external-link-new-window>Gedenkstätten gibt es in Baden-Württemberg. Sie erinnern, oft in ehemaligen Synagogen, an die jüdische Geschichte des Landes, an einzelne Persönlichkeiten wie Matthias Erzberger, Georg Elser oder an die Stauffenberg-Brüder, an die Verfolgung und Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens (Grafeneck) oder von Sinti und Roma (Heidelberg). "Die meisten dieser Gedenkstätten wurden auf Initiative von aktiven Bürgerinnen und Bürgern errichtet", betont Sibylle Thelen, "die vor Ort begonnen hatten, die NS-Geschichte zu erforschen oder auch Kontakt mit Überlebenden aufzunehmen."

Bürger erforschen NS-Geschichte vor Ort

"1996, als das Land mit der Förderung begann, gab es keine zwanzig Gedenkstätten im Land", so Thelen weiter. "Seither sind viele hinzugekommen, und dieser Prozess ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Eben erst hat sich in Spaichingen der Verein Initiative KZ-Gedenken in Spaichingen e.V. gegründet. Dieser Verein und die übrigen elf Gedenkstätten an Außenlagerstandorten von Natzweiler haben sich Ende 2016 zum einem Gedenkstättenverbund zusammengeschlossen."

"Das KZ Natzweiler-Struthof, das dort als einziges KZ auf französischen Boden von 1941 bis 1944 bestand, hatte mehr als fünfzig Außenlager", erklärt sie, "viele davon auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg." Derzeit bewerben sich die Gedenkstätte im Elsass und die zwölf Initiativen an den ehemaligen Außenstellen von Natzweiler als erstes transnationales Netzwerk der Erinnerungskultur um das Europäische Kulturerbe Siegel.

821 900 Euro hat das Land 2016 bereitgestellt, um die Gedenkstättenarbeit zu unterstützen. Dazu kommen weitere Posten, die anders verrechnet werden, wie das Hotel Silber in Stuttgart oder die Unterstützung von Fahrten nach Auschwitz. Die lpb verteilt diese Mittel, vier von sechs Mitarbeitern bearbeiten Anträge und Verwendungsnachweise und unterstützen die Initiativen mit Lehrerfortbildungen, Fachtagungen für Multiplikatoren, Publikationen und Beratung. "Es geht um nachholende Professionalisierung", erklärt Thelen, "angesichts der steigenden Erwartungen an Gedenkstätten als außerschulische Lernorte oder auch angesichts des bevorstehenden Generationswechsels an den Gedenkstätten."

"Heute besuchen etwa 310 000 Menschen jährlich die Gedenkstätten und Erinnerungsstätten im Land", fasst Thelen zusammen. "Knapp zwei Drittel davon sind Jugendliche." Diese jungen Menschen haben "keinen eigenen lebensweltlichen Bezug mehr zu dieser Zeit, das gilt für junge Leute mit und ohne Migrationsgeschichte gleichermaßen." Aber die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ist wichtig, mit oder ohne persönlichen Bezug. Es geht um Themen wie Ausgrenzung und Gewalt, oder wie Muhterem Aras in der Gedenkfeier gesagt hat, um die grundsätzliche Frage: In welcher Welt wollen wir leben?


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4 Kommentare verfügbar

  • Des Illusionierter
    am 19.02.2020
    Antworten
    Man müsste sich um das Demokratische Fundament unseres Deutschen Hauses weniger Sorgen machen, wenn seine Demokratische Substanz nicht vom Anbeginn so arg dürftig und unzulänglich wäre und wenn dieses bisschen Substanz nicht seit Mitte der 70er-Jahre durch immer mehr neoliberale Deformationen…
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