Als die französische Armee unter General de Lattre Anfang April 1945 den Rhein überschritten hatte und unaufhaltsam Richtung Stuttgart und Bodensee vorrückte, hatte die SS in den KZs auf der Schwäbischen Alb ein Problem: wohin mit den Häftlingen? Am 13., 17. und 18. April wurden insgesamt 1997 Häftlinge, wie die Erinnerungsinitiative "Gedenkstätte Eckerwald" dokumentiert hat, aus den Lagern Frommern, Dautmergen, Schömberg und Schörzingen, alle bei Balingen, Zollernalbkreis, auf Todesmärsche geschickt. Quer durch Oberschwaben trieben die KZ-Schergen ihre Häftlinge Richtung Dachau. Der Pfarrer von Ebersbach, einem Ort im Kreis Ravensburg, notierte damals in der Pfarrchronik: "Wer nicht mehr kann, erhält den Genickschuss – aus."
Am 22. April 1945 – es war ein Sonntag – kam ein Todesmarsch durch Waldsee. Michael Barczyk, Stadtarchivar im oberschwäbischen Bad Waldsee, sprach darüber am Volkstrauertag 2013: "Ein Teilnehmer erinnert sich an eine tropfende Dachrinne des Bachem-Werkes. Er wollte daran lecken und wurde sogleich brutal zusammengeschlagen. In der Biberacher Straße standen Waldseer Anlieger, schauten zu, trauten sich nicht, den Hilferufen 'pain, pain' ('Brot, Brot') nachzukommen. Und dann fand man einen Tag später, am 23. April 1945, bei der Eisenbahnunterführung bei Unterurbach die Leichen von zwei KZlern."
Nach der Rede des Archivars war vergessener Doppelmord Thema an vielen Tischen. Ernst Fricker, Jahrgang 1929, zwei Kilometer vom Ort des Geschehens zu Hause, war nach der Gedenkfeier im Hasen; dort hockten einige der Alten, kramten in Erinnerungen. Kaum war er zu Hause, schaute er nach seinem kleinen schwarzen Notizbuch, nach der Kladde von 1945.
"Die wurden verraten"
Frühschoppen im Rad in Mittelurbach, sechs Wochen danach. Ernst Fricker hat sein Büchle von damals dabei. "Zwei Sträflinge (KZ) erschossen von Offiz." – größer ist die Eintragung nicht. "Dia hot ma verrota", ist sich der 83-jährige Bauer sicher. Er hatte damals, im Sommer 45, mit zwei "Molle" (Ochsen) den Grabstein für die Verratenen herbeigeschafft. "Innerhalb vo 24 Stunda hot mei Großvatr a Grabstell für dia Erschossene braucht", berichtet Franz Knitz (73). Sein Großvater war in den Tagen des "Umsturzes" Bürgermeister von Unterurbach gewesen. "Däa Leichagschmack hon i lang it wegkriegt", sagt Alois Fricker (81). "Bei dr Umbettung anno 48 hond alte Nazi vom Dorf helfa müssa", sagt ein anderer.
Alois Fricker, 1945 13 Jahre alt, schildert eine gespenstische Szene. Es hatte geheißen, bei Feinkost Linder in Waldsee gebe es Blockschokolade. "Viel Leut send agschtanda." Da zogen KZ-Häftlinge vorbei. Etwa 30 bis 40 Sträflinge, angetan mit der gestreiften KZ-Kleidung. Brav anstehende Bürger trafen auf ausgemergelte Opfer des Regimes. Alois Fricker: "Einige hond kaum no laufa kenna." Er erinnert sich, wie ein Wachmann einen strauchelnden Häftling mit dem Gewehrkolben stieß.
Nur wenige Tage später werden die Bürger Besiegte sein und die Opfer Befreite. Aber noch ist es nicht so weit.
Die Häftlinge und ihre zahlenmäßig schwache Bewachung marschieren weiter Richtung Haisterkirch; "drei oder vier" können sich absetzen, berichtet Ernst Fricker, der Bruder von Alois. Die Flüchtigen verstecken sich in der Nacht vermutlich in einem Wäldchen oberhalb des Urbachs. Am Montagmorgen (23. April) halten sich laut Ernst Fricker drei Flüchtige am Urbach auf, wohl um sich zu waschen und um etwas zu trinken. Da fährt ein deutscher Jeep heran. Einer der KZ-Sträflinge kann flüchten, die beiden anderen aber folgen dem Ruf aus dem Kübelwagen, worauf sie an Ort und Stelle erschossen werden. Die Täter lassen die Toten einfach liegen und fahren weiter.
Wer nicht weiterkonnte, wurde erschossen
Alois Fricker kann den Wochentag nicht mehr sagen, an dem er Schokolade gehamstert hatte, doch es muss jener Sonntag, der 22. April, gewesen sein. Damals hatte der Lebensmittelhandel auf dem Land vielfach auch am Sonntagvormittag, nach der Kirche, geöffnet. Vielleicht war es auch eine Sonderabgabe am Nachmittag gewesen, denn Anna Krattenmacher, geboren 1925, meint, es sei Abend gewesen, als der Elendszug an ihrem Haus am Fuße des Haidgauer Berges, vier Kilometer östlich Waldsees, vorbeigekommen sei. "Mei Vatr hot dene Häftling Wasser nausbringe müssa", berichtet die 89-Jährige. Sie selbst durfte das Haus nicht verlassen, sah aber, wie die Sträflinge den Berg hochkeuchten, graue Decken über ihrer gestreiften Kleidung tragend. Knapp vor der Bergkuppe, 800 Meter vom Haus Fiegel, in einem Waldstück links der Straße, erschossen die Bewacher zwei Entkräftete.
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Maria Sigg-Huber
am 24.04.2024