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Zweifel und Skepsis

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Nach dem Ende der Beweisaufnahme arbeiten die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund unter Hochdruck an der Zusammenfassung der Ergebnisse. Anders als sonst üblich, versuchen alle vier Fraktionen, sich auf eine gemeinsame Bewertung zu verständigen. Vielen NSU-Watchern wird sie aber nicht gefallen.

Clemens Binninger hat alte Fragen neu aufgeworfen. Der CDU-Mann und ehemalige Polizist, der eben erst den Vorsitz im zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestags eingenommen hat, will noch immer nicht an die amtliche Version von dem Geschehen auf der Heilbronner Theresienwiese glauben. Die Ermittlungsbehörden und mit ihnen der Generalbundesanwalt schreiben den Anschlag, bei dem die Polizistin Michèle Kiesewetter getötet und ihr Kollege Martin Arnold schwer verletzt wurde, den beiden NSU-Tätern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu. "Ich bin nicht der gleichen Meinung wie der Generalbundesanwalt, der ja immer sagt, alle Verbrechen wurden nur von den beiden allein begangen", erklärt Binninger. Gerade in Sachen Heilbronn habe er erhebliche Zweifel.

Auch seine Stuttgarter Kollegen sehen weiteren Aufklärungsbedarf. Jedoch vor allem, was die rechtsextremistische Szene in der Region und mögliche Helfer anbelangt, die die Theresienwiese ausgespäht haben könnten. Wolfgang Drexler, der Ausschussvorsitzende, erinnert daran, dass "trotz akribischer Arbeit" kein einziger Anhaltspunkt für einen anderen Hergang, für weitere oder andere Täter an diesem 25. April 2007 gefunden werden konnte. "Wir wollen Mythen austreten", hofft der Sozialdemokrat nicht nur mit Blick auf den Bericht, der Mitte Januar präsentiert wird. Sondern vor allem angesichts "der ungezählten Stories", die weiterhin durchs Netz schwirren.

Binninger hingegen entwickelt die These vom dritten Mann, auf Basis eines rechtsmedizinischen Gutachtens der Uni Würzburg zu jener Jogginghose, die Mundlos zugeordnet wird und Blutspritzer von Kiesewetter aufweist. "Der Täter könnte nebendran gestanden sein und vielleicht geholfen haben, aber geschossen hat er eher nicht", mutmaßt der Böblinger Bundestagsabgeordnete. Er ist keineswegs der einzige Prominente, der weiter Spekulationen nährt. Auch Krimi-Autor Wolfgang Schorlau lässt seinen Privatermittler Georg Dengler nicht davon ausgehen, dass die offizielle Version der Anklage im Münchener NSU-Prozess die richtige ist. Stattdessen bringt er jene US-Geheimdienste ins Spiel, die unstrittig am Tattag in Heilbronn waren. Kontext-Mitbegründer Rainer Nübel hatte schon vor vier Jahren im "Stern" gemutmaßt, dass ein FBI-Mitarbeiter sogar Zeuge gewesen sein soll.

Gibt es Verbindungen zu den Hells Angels? 

Nicht belegt werden konnte allerdings die Echtheit des Geheimpapiers der US-Spionageabwehr, das Basis dieser Berichterstattung war. Ein früherer Mitarbeiter der "Military Intelligence" (MI) ließ wenig Kooperationsbereitschaft erkennen und widerrief sogar seine Aussage bei der Bundesanwaltschaft. Ein zweiter erschien, trotz Zwangsgeld, gleich gar nicht im Landtag. Als "richtig unbefriedigend" empfindet der Vorsitzende Drexler den ganzen Vorgang.

Nicht aufgearbeitet sind auch mögliche Verbindungen zur organisierten Kriminalität. Binninger hat angekündigt, dass der neue Bundestagsausschuss entsprechenden Indizien noch einmal nachgehen will. Die Handynummern einiger polizeibekannter Krimineller, darunter Rocker der Hells Angels, waren am Tattag in Heilbronner Funkzellen eingeloggt. Der zuständige Kriminalhauptkommissar im Landeskriminalamt (LKA) sagte Ende November im Zeugenstand, ein Teil dieser Spuren habe sich als nicht relevant erwiesen – manche Nummern waren Fantasienamen zugeordnet –, andere seien aber nicht verfolgt worden, weil man andere Prioritäten habe setzen müssen.

Interpretationsspielräume für all jene, die die Behördenthesen bezweifeln oder sogar rundheraus ablehnen, bieten weitere Details, wie die Auswertung der Telefon-Kontaktdaten von Kiesewetter und Arnold. Der Grüne Alexander Salomon kritisiert, dass nur die letzten 24 Stunden vor der Tat untersucht wurden. Nicht einleuchten will ihm die Begründung, dass es die Runde unter den Kollegen gemacht hätte, wenn sie telefonisch bedroht worden wäre. Unklar blieb indessen, wer die Thüringerin eigentlich bedroht haben soll.

Ein zweiter Ausschuss ist notwendig

Hinweisen auf rechte Verbindungen der Beamtin in und um ihren Heimatort Oberweißbach ging das Gremium des Landtags in zahlreichen Zeugenvernehmungen nach. Keine der im Umlauf befindlichen Theorien konnte aber erhärtet werden. Schon gar nicht jene, wonach Kiesewetter an dem Wochenende vor ihrem Tod brisante Informationen ausgeplaudert und deshalb ausgespäht und liquidiert worden sei. Die Beweiserhebung erbrachte, dass die beiden Beamten rund um die Tatzeit nicht geortet werden konnten – beide hatten keinerlei Funkverkehr. Kiesewetter hatte zudem am Mordtag mit einer Kollegin den Dienst getauscht – die Dokumentation dieses Vorgangs beurteilt Drexler als schlampig. Die Polizistin habe aber so spät erfahren, dass ihre Schicht schon vormittags beginnen sollte, dass bei einer gezielt vorbereiteten Aktion darauf nicht mehr hätte reagiert werden können.

Zweifeln, Skepsis und Spekulationen entzogen ist immerhin die Statistik: In 38 Sitzungen wurden 18 Sachverständige sowie 136 Zeugen und Zeuginnen vernommen, einige davon mehrfach. Alle vier Fraktionen streben nicht nur eine gemeinsame Bewertung an, sondern auch einen gemeinsamen Bericht und gemeinsame Empfehlungen. Darüber debattieren will der Landtag in seiner letzten Plenarwoche Mitte Februar. Dass der, wie der Bundestag, einen zweiten Ausschuss installieren will, erweist sich als notwendig angesichts des umfangreichen Fragenkatalogs, der als Wiedervorlage vermutlich noch vor der Sommerpause 2016 auf den Tisch des nächsten Landtags kommen wird.

Beschluss des Ausschusses im Wortlaut

Erstens: Der Ausschuss wird mit seinem abschließenden Bericht an das Plenum des Landtags die Beschlussempfehlung aussprechen, dass der Landtag dem 16. Landtag empfiehlt, einen weiteren Untersuchungsausschuss einzusetzen zur weiteren Klärung der noch offenen oder neu aufgeworfenen Fragen im Zusammenhang mit dem Komplex "Rechtsterrorismus in Baden-Württemberg und Nationalsozialistischer Untergrund", die in dieser Legislaturperiode nicht mehr geklärt werden können, insbesondere: 

1. Mögliche Bezüge des NSU und seines Unterstützerumfelds zu Personen, Organisationen und Einrichtungen des rechten Spektrums in Baden-Württemberg, vor allem im Großraum Heilbronn; 

2. Rolle rechter Musikgruppen und Musikvertriebsstrukturen als mögliches Unterstützerumfeld des NSU in Baden-Württemberg;

3. Mögliche Verbindungen zu Rockergruppierungen und damit verbundener organisierter Kriminalität; 

4. Das personelle und organisatorische Verhältnis der unterschiedlichen KK-Klan-Gruppen in Baden-Württemberg untereinander, im bundesweiten und internationalen Kontext mit möglichen Verbindungen bzw. Bedeutung für den NSU unter Berücksichtigung des "Corelli-Berichtes" und weiterer bundesweiter Erkenntnisse sowie Kenntnisse über mögliche KKK-Aktivitäten und Verbindungen;

5. Mutmaßliche Aufenthalte des NSU in Baden-Württemberg;

6. Weitere mutmaßliche Anschlagsziele des NSU in Baden-Württemberg;

7. Inwieweit die Sicherheitsbehörden in Baden-Württemberg, z. B. über Quellen bzw. Informanten, Zugänge in diese Netzwerke hatten und welche Erkenntnisse zu Bezügen zum NSU und seinen Taten sowie den vorgenannten Punkten hieraus vor und nach dem 4. November 2011 gewonnen werden konnten;

8. Ob und inwieweit nach Bekanntwerden der NSU-Terrorgruppe die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden und den Justiz- und Sicherheitsbehörden des Bundes und der anderer Länder erfolgte, welche Erkenntnisse dabei gewonnen wurden, wie die Erkenntnisse in den weiteren Ermittlungen berücksichtigt wurden und welche möglichen Defizite dabei bestanden;

9. Welche Konsequenzen die baden-württembergische Landesregierung und die baden-württembergischen Justiz- und Sicherheitsbehörden nach Bekanntwerden der NSU-Terrorgruppe aus etwaigen Fehlern oder Versäumnissen bei den Justiz- bzw. Sicherheitsbehörden in Baden-Württemberg, in anderen Bundesländern und beim Bund gezogen haben und inwieweit diese bereits umgesetzt sind.

10. Erarbeitung von Handlungsempfehlungen auch unter Aufgreifen des Auftrags der Enquêtekommission "Konsequenzen aus der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)/Entwicklung des Rechtsextremismus in Baden-Württemberg – Handlungsempfehlungen für den Landtag und die Zivilgesellschaft"

Zweitens: Der Ausschuss wird, solange wie es ihm aufgrund der Berichterstattung an den Landtag möglich ist, seine Beweisaufnahmen soweit wie möglich fortsetzen mit dem Ziel, möglichst viele Einzelfragen und Komplexe seines Einsetzungsauftrags abschließend zu erfüllen.

Drittens: Der Ausschuss wird die ihm möglichen Vorkehrungen treffen, um – unbeschadet des Entscheidungsrechts des neu eingesetzten 16. Landtags – eine möglichst schnelle Fortsetzung der Aufklärungsarbeit sicherzustellen. Er wird auch dem Landtag empfehlen, entsprechende Maßnahmen für die Zeit nach Erstattung des Abschlussberichtes zu treffen, damit nach dem Zusammentritt des 16. Landtags so schnell wie möglich eine Fortsetzung der Aufklärungsarbeit erfolgen kann.


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1 Kommentar verfügbar

  • Barolo
    am 29.12.2015
    Antworten
    Toller Einstieg "arbeiten die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund unter Hochdruck". Den Eindruck hatte ich die ganze Zeit nicht. Weder beim Ländle PUA noch bei einem der anderen.
    An der falschen Grundannahme des Bundestages (kein Gericht!) "die Uwes haben…
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