Denn bei nüchterner Betrachtung spricht wenig gegen den Zahlencode und viel dafür. Nur fünf EU-Mitgliedsstaaten kennen keine Kennzeichnungspflicht. Berlin war bundesweit Vorreiter. In Brandenburg gilt: "Polizeivollzugsbedienstete tragen bei Amtshandlungen an ihrer Dienstkleidung ein Namensschild, das beim Einsatz geschlossener Einheiten durch eine zur nachträglichen Identitätsfeststellung geeignete Kennzeichnung ersetzt wird." In mehreren Ländern wird gerade über die Einführung verhandelt. Klagen dagegen sind bereits gescheitert. Andere Verfahren laufen noch. Grundsätzlich sind die Erfahrungen mit der Identifizierungsmöglichkeit durchweg positiv. Und der Blick darauf reicht weit zurück. Im preußischen Berlin wurde schon seit 1848 die Nummerierung praktiziert, als die Polizei Sicherheits- und Wohlfahrtsorgan sein wollte. Die erste einschlägige Initiative in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg blieb 1968 der FDP im Berliner Abgeordnetenhaus vorbehalten.
Ihr Fraktionschef im baden-württembergischen Landtag, Hans-Ulrich Rülke, nennt das Vorhaben 46 Jahre und einige programmatische Volten später eine "Misstrauensbekundung gegenüber der gesamten Polizei", mit der die Grünen "ihrer Klientel" zeigen wollten, dass sie sich "auch in Regierungsverantwortung nicht mit dem Staat und seinen Organen identifizieren". Selbst die CDU hatte sich Ende der Siebzigerjahre schon einmal interessiert gezeigt. Jetzt will sie in Hessen gemeinsam mit den Grünen die Kennzeichnung einführen. In Baden-Württemberg wurde Anfang der Achtziger heftig diskutiert, als es rund um öffentliche Gelöbnisse und die zahlreichen Hausräumungen vor allem in der Landeshauptstadt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, bei denen Polizisten nicht immer nur als Ordnungshüter auftraten. Geschehen ist nichts.
Misstrauen in staatliche Tätigkeit: eine demokratische Tugend
Sehr engagiert sind die Pro-Argumente in einer zehn Jahre alten Dissertation aus der Bibliothek der Freien Universität Berlin zusammengetragen: Die Behauptung, mit der Kennzeichnung werde "in nicht akzeptabler Weise generelles Misstrauen in die Arbeit der Polizei signalisiert", dokumentiere in Wahrheit eine "mangelnde Bereitschaft, Misstrauen in staatliche Tätigkeiten als eine wünschenswerte demokratische Tugend zu betrachten". Und gerade in dem damit offenbarten Beharren auf hoheitlicher Distanz der Polizei zum Bürger zeige sich, "wie berechtigt dieses Misstrauen ist". Denn: "In der Alltagsarbeit kann in bedenklicher Weise leicht der Blick dafür verloren gehen, dass der Bürger kein Ordnungsrisiko, sondern der Souverän ist."
Amnesty International fordert die Bundes- und alle Landesregierungen 2010 auf, "sicherzustellen, dass alle Beamten im Amt durch eine sichtbare Kennzeichnung auf ihrer Uniform identifiziert werden können, auch wenn sie Helme oder eine besondere Schutzuniform tragen". Selbst die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich im Mai 2012 dafür aus, "da sich die Argumente dagegen nicht auf Fakten stützen". Die Einführung könne "Handeln rekonstruierbar machen" und trage "zur Stärkung des Vertrauens bei, wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht einer anonymen Staatsmacht gegenüberstehen, sondern einer dialogbereiten und individuell verantwortlich handelnden Polizei". Da allerdings waren die Genossen im Bund noch in der Opposition.
Gall hätte sich mit der grün-roten Landesregierung an die Spitze der Bewegung stellen können. Stattdessen lässt er in der Vergangenheit immer wieder ausrichten, andere Vorhaben hätten Priorität, um jetzt zum Auftakt der landespolitischen Sommerpause im Alleingang mit dem Wunsch nach neuen Verhandlungen darüber mit den Regierungsfraktionen an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Grünen lassen sich allerdings nicht beirren. "Wir müssen das Thema entdämonisieren, und dann werden wir zu einem guten Ergebnis kommen", sagt Fraktionsgeschäftsführer Uli Sckerl, ihm sei die Debatte streckenweise "viel zu irrational".
Folgen für die Reputation der Polizisten
Sckerl gehört zu jenen Landtagsabgeordneten, die im Spätherbst 2010 zuerst im Innen- und dann im ersten Untersuchungsausschuss zum Schwarzen Donnerstag miterleben durfte, wie die Stuttgarter Polizei versuchte hat, im wahrsten Sinn des Wortes einschlägige Sequenzen ihrer umfangreichen Videomitschnitte des Einsatzes im Schlossgarten unter Verschluss zu halten. Spätestens ab halb elf vormittags filmen Beamten in mehreren Teams an jenem 30. September 2010, die ersten Prügler tauchen aber im Internet auf Amateurmitschnitten auf, lange bevor die Einsatzleitung solche gewalttätigen Übergriffe einräumt. "Der gefürchtete Schwarze Block trägt in Baden Württemberg Uniform", heißt es in Spiegel-TV. Auch die Praxis der Kennzeichnung in Gruppen wird deutlich, mit Balken, Strichen, Dreiecken oder Nummern für einzelne Gruppen. Einer, der besonders gern zum Schlagstockt greift, trägt das Baden-Württemberg-Wappen am Kampfanzug.
15 Kommentare verfügbar
Kontext:Redaktion
am 19.08.2014Wir haben's gemerkt, leider nicht gleich beim ersten, und mehrere weitere Kommentare des Trolls unter Ihrem Nick nicht freigeschaltet.