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Pressefreiheit für Privatsender in BW

Hohes Maß an Rechtsunsicherheit

Pressefreiheit für Privatsender in BW: Hohes Maß an Rechtsunsicherheit
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Monatelang musste Radio Dreyeckland mit dem "Verdacht des Verstoßes gegen journalistische Grundsätze" leben – geäußert von der Lizenzgeberin des Senders. Jetzt wurde das Verfahren eingestellt. Im Sinne der Pressefreiheit. Doch bei den Freiburger Radio-Macher:innen bleibt ein bitterer Nachgeschmack.

Presse- und Meinungsfreiheit sind ein hohes Gut. Dies zu schützen ist eine der wichtigsten Aufgaben der baden-württembergischen Landesanstalt für Kommunikation (LFK), eine Anstalt öffentlichen Rechts. Sie ist für die Zulassung und Aufsicht privater Hörfunk- und Fernsehsender zuständig, also auch für die des nicht kommerziellen Hörfunksenders Radio Dreyeckland (RDL). Doch ausgerechnet die LFK hatte im Januar ein Verfahren eröffnet, das in Freiburg eher einschüchternd wirkte. Denn am Ende hätte eine Beanstandung, eine Untersagung oder Sperrung stehen können. Es ging um den RDL-Beitrag "Mai più Sant'Anne – Nie wieder Sant' Anna!" über das SS-Massaker im toskanischen Sant'Anna di Stazzema im August 1944.

Die Radiomacher:innen aus Freiburg haben über die Geschichte 80 Jahre nach dem Massaker berichtet, bei dem über 560 Menschen ermordet worden waren. Und über die juristische Aufarbeitung. Zuständig war zunächst die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, ab 2002 Bernhard Häußler, Leiter der Abteilung 1 für politisch motivierte Delikte bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart. "Dieser verschleppte die Ermittlungen, um das Verfahren nach zehn Jahren mangels Tatverdacht einzustellen", berichteten die RDL-Journalist:innen. "Die Täter alterten unbehelligt. Sieben von vierzehn Beschuldigten waren 2012 schon verstorben. Häußler ermöglichte die Einstellung des Verfahrens, indem er die Taten als verjährenden Totschlag bewertete und keine individuelle Schuld feststellte. Nach dieser juristischen Auslegung habe sich das Massaker mutmaßlich spontan vor Ort ereignet." Da Totschlag im Gegensatz zu Mord verjährt, hätten die Täter nicht mehr belangt werden können.

Foto: dpa/Marijan Murat

Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler war von 2002 bis 2013 Leiter der Abteilung 1 für politisch motivierte Delikte bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Im Zuge der juristischen Auseinandersetzungen um die Proteste gegen Stuttgart 21 wurde er bundesweit bekannt. 2013 bat er aus persönlichen Gründen um eine vorzeitige Pensionierung.  (hga)

Das Thema interessierte in den Nuller-Jahren kaum ein Medium. Weder in Stuttgart noch anderswo. Das SS-Massaker in der Toskana war in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Doch dann hat es die "vierte Gewalt" endlich entdeckt und über die Rolle der Staatsanwaltschaft berichtet. Auch Kontext hatte darüber mehrfach geschrieben. Ohne diese Veröffentlichungen und ohne das Recht, die Arbeit der Justiz ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen kritisieren zu können, wären die Ermittlungen gegen die SS-Täter möglicherweise 2012 endgültig eingestellt worden.

Stützen konnten sich die Medien bei ihren Recherchen unter anderem auf die Arbeit der Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die den Nebenkläger Enrico Pieri vertrat, einen Überlebenden des Massakers. Heinecke hatte dem Stuttgarter Oberstaatsanwalt damals vorgeworfen, das Verfahren verschleppt zu haben und auf die biologische Lösung zu warten. Der Kölner Historiker Carlo Gentile, der sich intensiv mit SS-Massakern in Italien beschäftigt hatte, sah dies ähnlich. Es sei typisch für die deutsche Justiz gewesen.

Foto: arbeiterfotografie.com/Uwe Bitzel

Anwältin Gabriele Heinecke hat Enrico Pieri und Enio Mancini vertreten, Überlebende des SS-Massakers von Sant'Anna di Stazzema. Die Humanistische Union (HU) wird die Hamburgerin im September mit dem Fritz-Bauer-Preis 2025 auszeichnen, unter anderem wegen ihrer Verdienste bei der Aufklärung des NS-Massakers in der Toskana.  (hga)

Gabriele Heinecke ist es dann in einem Klageerzwingungsverfahren beim Oberlandesgericht Karlsruhe gelungen, die Einstellung des Verfahrens durch Oberstaatsanwalt Häußler aufheben zu lassen. "70 Jahre nach dem SS-Massaker im toskanischen Sant'Anna di Stazzema kann das Verbrechen doch noch von einem deutschen Gericht aufgearbeitet werden", berichtete Kontext damals. Titel: "Ohrfeige für Ankläger". In der Pressemitteilung der Karlsruher Richter hieß es unzweideutig, dass "keine vernünftigen Zweifel" bestehen daran, "dass die Befehle und die Einsatzplanung […] von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant' Anna di Stazzema gerichtet waren".

Kaum jemand hatte mit erneuten Ermittlungen gerechnet. Zumal Klageerzwingungsverfahren nicht nur selten sind, sondern meist auch scheitern. Da der einzige noch lebende und verhandlungsfähige mutmaßliche Täter in Hamburg wohnte, übernahm die dortige Staatsanwaltschaft das Verfahren.

Die Freiburger Journalistinnen und Journalisten konnten sich also bei ihrer Kritik an der Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf das Urteil eines Oberlandesgerichts berufen. Ein seltener Fall, denn gewöhnlich sind derartige Recherchen wesentlich schwieriger. Trotzdem witterte die Landesanstalt für Kommunikation ein halbes Jahr nach der Ausstrahlung der Sendung von Radio Dreyecksland Verstöße gegen journalistische Grundsätze und die persönliche Ehre des ehemaligen Oberstaatsanwalts Bernhard Häußler. Die Radiomacher:innen hatten zuvor bei der LFK den Beitrag über das SS-Massaker in der Kategorie "Nichtkommerzielle Veranstalter" für den Medienpreis 2025 eingereicht. Sonst wäre der Beitrag bei der LFK nie aufgefallen.

Foto: Jens Volle

Enio Mancini war einer der wenigen, die das SS-Massaker von Sant'Anna di Stazzema überlebten: Die Männer der 16. SS-Panzergrenadier-Division hatten 560 Menschen ermordet, darunter 130 Kinder. Zusammen mit dem ebenfalls Überlebenden Enrico Pieri hat Enio Mancini 2013 den Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter und 2020 das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten.  (hga)

Nicht die Staatsanwaltschaft selbst oder der pensionierte Oberstaatsanwalt Häußler hatten sich gemeldet, sondern eine Anstalt, deren höchstes Gut die Presse- und Meinungsfreiheit sein sollte. Nach diesen Maßstäben hätten auch Kontext, andere Online- und Printmedien bis hin zu den Öffentlich-rechtlichen Verstöße und Ehrverletzung vorgeworfen werden können, denn sie berichteten ähnlich wie die Freiburger. Nur für diese Medien ist die LFK nicht zuständig.

In einer neunseitigen Stellungnahme erklärte Benjamin Lück, der von den Freiburgern beauftrage Rechtsanwalt, RDL habe "zurecht das Verschleppen der Ermittlungen" thematisiert sowie "das inhaltlich unhaltbare Ergebnis Häußlers als staatlichen Funktionsträger". RDL beziehe sich dabei "allein auf wahre Tatsachen".

Im Juli hat die LFK das Verfahren eingestellt, denn es lägen leine Verstöße gegen das Landesmediengesetz vor. Zitat: "Die Äußerung, Oberstaatsanwalt Häußler habe das Verfahren verschleppt, ist jedenfalls ihrem Sinn und dem gesamten Kontext nach eine zulässige das Hintergrundgeschehen bewertende zusammenfassende Stellungnahme bezüglich des dargestellten Verhaltens des Oberstaatsanwaltes, die sich in den Ton des Beitrages einfügt." Außerdem befasse sich das Hörfunkstück "mit einer Angelegenheit im öffentlichen Interesse".

Im Fokus der Kritik stehe "nicht Herr Oberstaatsanwalt Häußler als Person, sondern die Staatsanwaltschaft Stuttgart und Herr Häußler allein in seiner Funktion als Oberstaatsanwalt dieser Staatsanwaltschaft". Der Beitrag habe "einen Sachbezug zum kritisierten Geschehen, möge sie auch scharf und auch die namentliche Nennung des Oberstaatsanwaltes nicht angebracht erscheinen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, zum Kernbereich der Meinungsfreiheit gehört und deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist. Auch ist, insbesondere betreffend das Hintergrundgeschehen, das Maß der Ehrverletzung des Oberstaatsanwaltes nicht derart hoch, dass diese im konkreten Fall die Meinungsfreiheit überwiegen könnte".

Bei aller Erleichterung in der Redaktion von Radio Dreyecksland stört Michael Menzel, den RDL-Geschäftsführer, der Konjunktiv im Einstellungsschreiben. Denn laut LFK sei die Ehre von Bernhard Häußler durchaus verletzt worden. Lediglich das Maß dieser Ehrverletzung sei ausreichend gering, "um in Abwägung gegen die Meinungsfreiheit noch als zulässig zu gelten". Menzel warnt deshalb: "Zusammen mit der konjunktivisch eingebrachten Klassifizierung der Namensnennung als (möglicherweise) nicht angebracht führt das zu einem hohen Maß an Rechtsunsicherheit in Bezug auf das zukünftige Verhalten der LFK."


Transparenzhinweis: Unser Autor hat selbst in mehreren Medien über das SS-Massaker und dessen juristische Aufarbeitung berichtet.

Literatur: Hermann G. Abmayr: Die biologische Lösung, im Kontext-Buch "Politische Justiz in unserem Land", Jörg Lang (Hg.), Peter Grohmann Verlag, 2013. Carlo Gentile: Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei im Kampf gegen Partisanen und Zivilbevölkerung in Italien 1943–1945", Verlag Ferdinand Schöning, 2012. Carlo Gentile: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Gabriele Heinecke, Christiane Kohl, Maren Westermann (Hg.): Das Massaker von Sant'Anna di Stazzema. Mit den Erinnerungen von Enio Mancini. Laika Verlag, 2014.

Hintergründe zu dem Massaker in Sant'Anna di Stazzema finden sich auch hier.

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