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Zum Interview Prayon

Achtung statt Ächtung

Zum Interview Prayon: Achtung statt Ächtung
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Das Echo auf das Kontext-Interview mit Christine Prayon spiegelt die Gemütslage der Gesellschaft wider: Das Erregungspotenzial ist extrem hoch, wenn es um Corona und den Ukraine-Krieg geht. Ein Versuch, die große Gereiztheit zu erklären.

Nach der Durchsicht der Erscheinungen, in analoger und digitaler Form, ist festzustellen, dass das Kontext-Interview mit der Kabarettistin Christine Prayon ungeahnte Kräfte entfaltet hat. "Alle drehen durch", schrieb "Spiegel"-Autor Arno Frank, ein "mittleres Erdbeben" in der Medienlandschaft erkannte "Tichys Einblick", wobei die beiden Titel stellvertretend für die Bandbreite der Organe stehen. Tichy ist rechts. Dabei waren auch Dickschiffe wie SZ, FAZ, NZZ, "Deutschlandfunk", nur die "Stuttgarter Zeitung" nicht, die aber auch längst kein Dickschiff mehr ist.

Um zu begreifen, wie es zu dieser außergewöhnlichen Aufmerksamkeit kommen konnte, muss man die verschiedenen Ebenen ausleuchten, die zusammen ein schillerndes Gebäude ergeben, dessen Betreten ein hohes Maß an Aufregung verspricht. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hätte es wahrscheinlich unter dem Begriff "Die große Gereiztheit" eingeordnet.

Die Protagonisten: Christine Prayon, 49, Kabarettistin, Publikumsliebling ("Bild") der "heute-show", halbberühmt. Oliver Welke, 57, Fußballfachmann, Moderator und Kopf der "heute-show", sehr berühmt. Jan Böhmermann, 42, Entertainer, Kopf der ZDF-Sendung "Magazin Royale" und "Krawallschachtel" (Harald Schmidt), noch berühmter.

Bond-Girls an der Seite von Putin

Beiden wirft Prayon – ebenso wie der Satire von "Die Anstalt" – vor, Andersdenkende zu diffamieren. Ein Beleg ist der von Kontext wieder verfügbar gemachte Doppel-Stinkefinger Böhmermanns für Ungeimpfte. Ein anderer die Fotomontage mit den Linken-Chefinnen Janine Wissler und (der inzwischen zurückgetretenen) Susanne Hennig-Wellsow, die Welke im März 2021, also noch vor dem russischen Überfall, als leicht bekleidete Bond-Girls an der Seite Putins zeigte. "Liebesgrüße nach Moskau" untertitelte die "heute-show". Unschwer zu erkennen: Es geht Prayon um Corona und den Ukraine-Krieg, um die "gesellschaftlich prägenden Themen".

Die öffentlich-rechtlichen Anstalten: Auf dem Prüfstand, klarer noch, auf dem Gefechtsfeld stehen ARD und ZDF. Der Vorwurf der einseitigen Berichterstattung, Stichwort "Rotfunk", ist so alt wie die Anstalten selbst, wird mit Vorliebe im konservativen Lager erhoben und gerne genährt von politisch nahestehenden Zeitungen, denen die "Zwangsgebühren" ein Dorn im Auge sind. Hinzugekommen ist in letzter Zeit das Etikett "Staatsfunk", das, je nachdem welches Thema ansteht, von rechts und links bemüht wird. Rekurriert wird dabei gerne auf die Talkshows, die bisweilen als ausgelagerte Besprechungen von Regierungsvertreter:innen erscheinen. Und parallel dazu hat sich eine Debatte entwickelt, die den Anspruch der Medien, die "Vierte Gewalt" im Staate zu sein, als Chimäre erscheinen lassen könnte. Erinnert sei an Richard David Precht und Harald Welzer, die von einer "Selbstgleichschaltung" schrieben und dafür fast gesteinigt wurden.

In diesem Minenfeld bewegt sich Prayon, wenn sie davon spricht, dass Welke & Co. Positionen von Gruppen unablässig wiederholen, die "gesellschaftlich in der Hierarchie weit oben stehen". Das wäre die klassische Hofnarren-Rolle.

Foto: Michael Latz

Sir Isaac Neffton lässt grüßen

Während sich Böhmermann und Welke in Schweigen hüllen, bezieht Max Uthoff von der "Anstalt" Stellung:

Mit nicht geringer Verwunderung habe ich gelesen, dass unsere geschätzte Kollegin Christine Prayon glaubt, es sei ein Ausschlusskriterium für das Mitspielen in der Anstalt, "wenn man das Fass Kapitalismuskritik aufmacht und das wirklich ernst meint". Das wirft Fragen auf: Wie schafft es Christine Prayon, ein Fass aufzumachen, das seit Jahrzehnten offen steht? Dass dieser Kapitalismus ungerechte Verhältnisse produziert, die Lebensgrundlagen des Planeten ruiniert und alles in allem eine mit dem Zuckerguss des Konsums überzogene menschenfeindliche Veranstaltung ist, ist in zwei Minuten gesagt. Was machen wir mit den restlichen 43 Minuten Sendezeit? Wenn die satirische Kenntlichmachung der Beziehungen zwischen politischen Verantwortlichen und Funktionsträgern der Wirtschaft, der Versuch, einzelne Komponenten des Systems unter selbstverachtendem Einsatz vermeintlich krachlustiger Perücken darzustellen, wenn das Paarlaufen von Andi Scheuer und Sir Isaac Neffton zum Zweck der Illustration der Unfähigkeit und Korruption des leitenden Personals keine Kapitalismuskritik ist, was zum Henker machen wir da eigentlich die ganze Zeit? Und auch nicht unwichtig: Wird uns Christine Prayon ganz alleine retten können?

Mit bestem Gruß
Max Uthoff

Die Gesellschaft: Grob gesagt dürfte als allgemein gültig durchgehen, dass sie gespalten ist. Zunächst mal, ganz platt, in Arm und Reich, wobei diese Kluft immer größer und der Prozess der Spaltung beschleunigt wird. Politisch betrachtet, ist sie bei den großen Parteien nur noch zu kleineren Teilen zuhause; Bindungskräfte entfalten Klientelparteien, die kein Tempolimit oder Klimakleber in den Knast stecken wollen. Alice Weidel lässt grüßen. Soziologisch betrachtet, driften die sozialen Gruppen weiter auseinander, auch getrieben durch die sogenannten sozialen Medien, die mit ihrer Blasenwirtschaft die Unübersichtlichkeit der Welt befeuern. Und die Sozialpsycholog:innen erzählen die Geschichte vom "Othering", die eigentlich nichts anderes meint, als dass das Andere ausgegrenzt wird, um das Eigene zu schützen. Aber Achtung, das könnte ernstgemeinte Kapitalismuskritik sein, und damit ist man raus aus dem Spiel, glaubt Prayon. Falsch, entgegnet Max Uthoff von der "Anstalt", denn genau das sei ihr Programm. Siehe dazu den Kasten.

"Geh nicht" schreibt die SZ

Landauf, landab druckten die Redaktionen Prayons Botschaft, versehen mit der Überschrift, die ZDF-Kabarettistin rechne mit der "heute-show" ab. Das kann man so sehen, wenn dem Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie (Klick!), welches die Zuspitzung erfordert, Folge geleistet wird.

Christine Prayons Anliegen war freilich ein anderes: Sie wünscht sich einen offenen Diskurs. Sie will keine Angst haben müssen, sofort als Schwurblerin in die rechte Ecke gestellt zu werden, wenn sie einen "obskuren Kanal" anklickt, wenn sie auch noch dem zuhört, "der für das Letzte gehalten wird".

Verständnis findet sie bei der "Süddeutschen Zeitung" (SZ). Ihre Autor:innen, Oliver Hochkeppel und Susan Vahabzadeh, haben das ganze Interview gelesen und sehen den "wunden Punkt", den die Künstlerin trifft. Die fehlende Meinungsvielfalt, die Lücken beim kritischen Denken, die auch beim Publikum bleiben, und sie erinnern an den öffentlichen Auftrag, der eben diese Vielfalt von ARD und ZDF verlangt. Ihr Text trägt die Überschrift "Geh nicht" und den Untertitel "Christine Prayon hört bei der 'Heute-Show' auf. Aus guten Gründen". Das ist kundig und klug. Arno Frank vom "Spiegel" schreibt, ihr Schritt sei "honorig", ihre Kritik "bedenkenswert".

Verständnis, bis hin zur Bewunderung, äußern auch die Rechten – bei unterschiedlicher Motivlage. AfD-Abgeordnete rufen sogleich zur Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf. Julian Reichelt, der frühere Chefredakteur der "Bild"-Zeitung und heutige Rechtsaußen-Blogger ("Achtung Reichelt") feiert die linke Kabarettistin als "Heldin".

In "Tichys Einblick" wird ihr mehrfach "Respekt" gezollt, nicht ohne den Hinweis, dass sie das von ihr Gesagte schon seit Jahren schreiben, aber egal und empathisch, es bleibe ein Einkommensverlust in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Schließlich müssten Miete, der Pizzaservice und der Zahnarzt bezahlt werden. Das klingt, als hätten sie Mitleid, und doch sind sie nur Büchsenspanner, die Patronen im Lauf brauchen, um auf ARD und ZDF zu schießen.

Sprich nicht mit den Schmuddelkindern

Nun wird ja gerne davor gewarnt, Aussagen zu machen, die auch der politische Gegner machen beziehungsweise nutzen könnte, um seine Argumente glaubhafter erscheinen zu lassen. So raten auch gescheite Leute zur Abstinenz wegen des Risikos der Instrumentalisierung und halten Prayon vor, genau gewusst zu haben, was rechtskonservative Onlineportale und Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks daraus stricken. Sie lasse semantische Leerstellen zurück, heißt es düster, die jetzt von Rechtspopulisten mit ihrer Agenda geflutet würden. Nachzulesen sind die kritischen Stimmen, neben lobenden, im "Altpapier", dem Medien-Watchblog des Mitteldeutschen Rundfunks. Sie lassen den Schluss zu, dass eine Unterlassung klüger wäre.

Ausgabe 639, 28.06.2023

Birte spielt nicht mehr mit

Von Susanne Stiefel (Interview)
 

Christine Prayon alias Birte Schneider tritt nicht mehr in der "heute-show" auf. Welke & Co. machten "Stimmung gegen Andersdenkende", kritisiert die Kabarettistin. Und bezieht "Die Anstalt" und Böhmermann mit ein. Mit Satire, die keinen Diskurs zulasse, könne sie nichts anfangen, sagt Prayon.

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Die Sperrige wird dem nicht folgen, sie fragt stattdessen: "Hört man auf zu reden, weil man eventuell falsch verstanden wird?" Soll sie nur noch taktisch diskutieren, sich selbst zensieren, ihre Corona-Kritik verschweigen, weil sie den Impfgegnern in die Hände spielt? Soll sie nur noch sagen, was Beifall von der falschen Seite verhindert?

Darauf gibt es eine schöne Antwort von Hans-Magnus Enzensberger. "Wer ständig im feindlichen Feld nach Anzeichen des Beifalls Ausschau hält", notierte der Schriftsteller 1962, "macht seine Feinde zu Schiedsrichtern des eigenen Redens."

Besser wäre natürlich, zu sprechen als zu schauen. Anleitungen dazu sind vorhanden, ein Buch des oben erwähnten Kommunikationsexperten Pörksen trägt sogar den passenden Titel ("Die Kunst des Miteinanderredens"), aber das ist leichter geschrieben als getan. Solange es zum Beispiel die Angehörigen der Kontaktschuld-Fraktion gibt, die alles unter Generalverdacht stellen, was nicht mit der gewünschten Meinung übereinstimmt. Wer mit Rechten redet, wird in die Schublade gesteckt und geächtet, wer mit den "falschen" Leuten am "falschen" Ort ist, ebenso. "Wie wenig bedarf es mittlerweile", fragt Prayon, "um als rechts gebrandmarkt zu werden." Ermutigend ist, dass eine überwiegende Zahl der Kontext-Kommentator:innen zur Debatte bereit war. Das ist als ein Plädoyer für eine plurale Offenheit zu verstehen.


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11 Kommentare verfügbar

  • wallywhoo
    am 08.07.2023
    Antworten
    Moinsen, Leude.
    Verstehe die Aufregung bzgl. Böhmermann nicht wirklich. Die gezeigten Mittelfinger beziehen sich m. W. nach auf die zuvor genannten Wrihnachtsmärkte/Christkindls und das Virus. Die kämen, ob einer dran glaube oder nicht.
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