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Zum Interview Prayon

Schade, Böhmermann

Zum Interview Prayon: Schade, Böhmermann
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Hat Jan Böhmermann im "ZDF Magazin Royale" Nichtgeimpften beide Mittelfinger gezeigt? Eine Frage, die am vergangenen Wochenende vor allem "Spiegel Online" und Twitter beschäftigte. Die Redaktion des "Magazin Royale" konnte sich nicht erinnern. Wir schon.

In der vergangenen Ausgabe haben wir ein Interview mit der Kabarettistin Christine Prayon veröffentlicht, in dem sie erklärte, warum sie nicht mehr bei der "heute-show" mitmachen will. Die Resonanz: riesig, vor allem auch auf ihre Aussage, Jan Böhmermann, einer der reichweitenstärksten deutschen Entertainer, habe zu Corona-Zeiten Nichtgeimpften den Mittelfinger gezeigt und damit "gängige Narrative verstärkt".

Nahezu alle größeren deutschen Medien haben das so zitiert. Die Kulturredaktion von "Spiegel Online" war da skeptischer und hat für ihren Beitrag zu unserem Interview, so twitterte es einer der verantwortlichen Redakteure am vergangenen Freitag, wohl lange im Netz nach diesen Mittelfingern gesucht – ohne Erfolg. Im veröffentlichten Text stand dann schließlich: "Wann Böhmermann die Geste gemacht haben soll, sagte Prayon nicht. Aus der Redaktion des 'ZDF Magazin Royale' von Jan Böhmermann heißt es, man habe einen entsprechenden Ausschnitt nicht gefunden und könne sich auch nicht an Mittelfinger gegen Ungeimpfte erinnern."

Kurz darauf twitterten dann das "ZDF Magazin Royale" und Böhmermann, garniert mit zwei gelben Emoji-Mittelfingern über zwei große Accounts (Reichweite zusammen fast drei Millionen Follower:innen): "Den Stinkefinger und das #ZDFMagazin verbindet eine lange gemeinsame Geschichte voller amüsanter Falschmeldungen und vergessener Faktenchecks." Falschmeldungen? Vergessene Faktenchecks? Meinen die uns?

Varoufakis' Stinkefinger war gut

Im Tweet verlinkt ist jedenfalls ein Video von 2015, da war Böhmermann noch für "ZDF Neo", einen Ableger des Zweiten, auf Sendung. In der Folge ging es um den damaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, sie wurde einer der ersten großen Coups in Böhmermanns Karriere. Die Geschichte hinter "Varoufake" in aller Kürze: Zu der Zeit steckte Griechenland seit Jahren in einer schlimmen Schuldenkrise. Vor allem Deutschland zwang dem Land einen rigiden Sparkurs auf, während deutsche Krawallmedien den Begriff der "Pleitegriechen" prägten. In Griechenland selbst wurden Krankenhäuser geschlossen, Rentner:innen konnten kaum mehr etwas zu essen bezahlen, Jugendliche waren aller Hoffnung auf die Zukunft beraubt, immer mehr Menschen wurden obdachlos, es war alles sehr elend.

In dieser Situation brachte Günther Jauch in seiner Sendung einen Einspieler, in dem Varoufakis während einer Rede Deutschland den Stinkefinger gezeigt haben soll. Riesige Aufregung. Varoufakis dementierte. Den Finger hatte er tatsächlich gezeigt, allerdings nicht gegenüber Deutschland, sondern in anderem Zusammenhang und zwei Jahre zuvor. Der junge Böhmermann behauptete daraufhin, seine Redaktion habe die Geste gefälscht, woraufhin ganz Mediendeutschland hitzig über Wahrheit und/oder Fake diskutierte. Für dieses Stück bekam Böhmermann den Grimme-Preis. Er wurde zurecht dafür gefeiert, der Presse etwas über Sorgfaltspflicht und Quellenprüfung beigebracht zu haben. Scharfe Satire, gute Nummer. Ob aber das Varoufakis-Video als Antwort auf das Kontext-Interview mit Christine Prayon passt?

Kontext hilft gerne

Wir waren so frei, dem "ZDF-Magazin" beim Erinnern an die eigenen Mittelfinger behilflich zu sein (Finger ab Minute 2:45). Sie waren am 19.11.2021 zu sehen, im Intro der Sendung, die der Moderator wegen Corona ohne Studiopublikum performen musste. Was einen als Entertainer sicher ankotzt, da können einem schon mal die Finger ausrutschen. Aber warum so ein Geschiss drum machen?

Das Intro ist in der betreffenden Sendung, die wie alle "ZDF Magazin Royale"-Folgen auf dem hauseigenen Youtube-Kanal archiviert ist, weggeschnitten. Auf Anfrage von Kontext zum Fake-News-Vorwurf auf Twitter und der Aussage, man könne sich nicht mehr erinnern, antwortet erst keiner, auf nochmalige Nachfrage dann die Teamassistenz. Die Redaktion habe Betriebsferien, die Frage sei weitergeleitet, mit einer Antwort könnten wir Ende August rechnen. Auf Nachfrage, ob man nicht einfach denjenigen, der mit dem "Spiegel" gesprochen hat, um eine Antwort bitten könne, hören wir nichts mehr. Auch das "In dringenden Anliegen kannst Du Dich gerne telefonisch unter der folgenden Nummer melden"-Telefon nimmt mehrfach keiner ab.

Also, lieber Jan und Redaktion, einmal tief durchatmen, vielleicht nehmt ihr euch 'nen Stuhl, setzt euch hin, ihr müsst jetzt ganz, ganz stark sein und euch möglicherweise mal bei der "Neo-Magazin"-Fernsehnothilfe beraten lassen (kleiner Insider-Gag): Sehr schade, dass ihr nur dann Spaßvögel seid, wenn es nicht um euch selbst geht. Da hätten wir mehr erwartet.


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45 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 09.07.2023
    Antworten
    Meines Erachtens macht die Böhmermann-Redaktion gerade alles richtig - ich würde auch schweigen.

    Wenn eine Kritik - mag sie berechtigt sein oder nicht - zu einem Shitstorm dieser Dimension aufgebauscht wird, ist es völlig irrelevant, ob dazu Stellung bezogen wird oder nicht.

    Äußert sich…
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