Zunächst präsentierte "Die Zeit" kurz nach Ostern einen zweiseitigen Artikel, für den sie über Monate lang ausgewertet hatte, wie Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, über verschiedene Kanäle mit anderen Führungskräften kommuniziert hatte. Für den Text, der die Stammtischpositionen des Konzernlenkers zu Klimawandel, Muslimen und "Ossis" wiedergibt, bürgerte sich schnell der Begriff "Döpfner-Leaks" ein. Am Montag darauf startete bei Spotify "Boys Club", ein Podcast der Investigativjournalistinnen Pia Stendera und Lea von Holt zu "Macht & Missbrauch bei Axel Springer", dessen Beschreibungen der Verhältnisse bei "Bild" "fast ein bisschen an einen Kult oder eine Sekte" erinnerte, wie der "Kölner Stadt-Anzeiger" in einer Rezension schrieb. Zwei Tage später erschien "Noch wach?", der Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre über Macht und Missbrauch in einem an Springer angelehnten Medienunternehmen. Am Tag drauf erschienen im gedruckten "Stern" gleich vier Texte, die dem Wirken Mathias Döpfners und seinen, wie es auf dem Cover der Ausgabe heißt, Vorstellungen von einem "radikaleren Deutschland" gewidmet waren. Am vergangenen Wochenende schließlich lieferte der "Spiegel" neue Details dazu, wie FDP-Chef Christian Lindner und seine beim Fernsehsender der "Welt" als "Chefreporterin Politik" firmierende Ehefrau Franca Lehfeldt "Beruf und Beziehung vermischen".
In der Einleitung seines Interviews mit von Stuckrad-Barre fasst der "Spiegel" eine Äußerung einer Person, die "schon lange" bei "Bild" arbeitet, so zusammen: "Springer erinnere inzwischen an die großen Achtzigerjahre-US-Serien mit ihren familiären Intrigen; man warte mit dem Eimer Popcorn in der Hand genüsslich auf die nächste Folge." Jenseits ihres Schlagzeilen- und Unterhaltungswerts stellt sich allerdings die Frage nach der inhaltlichen Substanz der Veröffentlichungen.
Zu Mathias Döpfners "nach rechts offenem Stammtischgeschwätz" (Klaus Raab in der MDR-Medienkolumne "Altpapier") schreibt der Soziologe Nils Kumkar in der FAZ, es ermögliche einen neuen Blick auf zentrale Bereiche der Springer-Berichterstattung: "Dass hinter dem signalisierten Verständnis für die Proteste gegen Hilfe für Geflüchtete, für Querdenker und den Hass auf die Klimabewegung steckt, dass man deren politische Einschätzung rundheraus teilt" und "sie also nicht nur für nützliche Idioten hält" – das sei dann doch überraschend. Mit anderen Worten: Den beschriebenen Positionen gibt Springer nicht deshalb viel Raum, weil man sich dadurch mehr Reichweite (und Werbeeinnahmen) erhofft, sondern weil man von ihnen inhaltlich überzeugt ist.
Der tut nicht rechts, der ist rechts
Das klingt nicht unplausibel. Wie Döpfner politisch denkt, weiß man allerdings nicht erst seit seinen nicht für die Öffentlichkeit bestimmen Chat-Nachrichten. 2019 publizierte er auf Seite 1 seiner "Welt" ein irritierendes Manifest, in dem er anlässlich des Terrorattentats von Halle eine weitere Verschärfung der deutschen Flüchtlingspolitik forderte und gegen eine "mediale Elite" wetterte – obwohl es kaum eine Person gibt, die die mediale Elite besser personifiziert als der Milliardär Döpfner. Von der AfD bekam der Vorstandschef damals Beifall. Aufschlussreich sind die "Döpfner-Leaks" der "Zeit" dennoch – weil sie dokumentieren, wie der Herr des Springer-Hauses mehrmals zugunsten der FDP versucht hat, Einfluss auf die "Bild"-Berichterstattung zu nehmen.
An Döpfner angelehnt ist eine der Hauptfiguren in von Stuckrad-Barres Roman, die die Springer-ähnliche "Global-Player-Klapse" leitet. "Er war mein Freund, mein wirklich guter Freund, seit immerhin fünfzehn Jahren", schreibt der dem Autor nachempfundene Ich-Erzähler. Von Stuckrad-Barre war mit Döpfner befreundet, er schrieb für diverse Springer-Titel. Ist das Buch "eine Abbitte, mitgemacht zu haben", wie Dirk Knipphals in der taz schreibt? Dafür gibt der als Paulus auftretende Erzähler des Romans zu wenig davon preis, warum er selbst einst ein Saulus war. Erika Thomalla schreibt dazu im "Freitag": "Man hätte sich eine Erzählerfigur gewünscht, die der Leserschaft mehr Einblicke in ihre eigenen Verstrickungen in die beschriebenen Mechanismen gibt. Damit hätte der Roman möglicherweise auch etwas zur Klärung der Frage beigetragen, warum die Strukturen, die einen Chefredakteur wie Julian Reichelt bei 'Bild' ermöglicht haben, lange Zeit von so vielen mitgetragen und erhalten wurden."
Auch wenn es ein bisschen heikel ist, den Erkenntniswert eines fiktionales Werks mit dem einer dokumentarisch-journalistischen Produktion zu vergleichen: Was die Strukturen angeht, ist der Spotify-Podcast "Boys Club" deutlich erhellender als das Buch "Noch wach?". In "Boys Club" äußern sich frühere Springer-Mitarbeitende unter anderen Namen und mit teilweise verfremdeter Stimme zu ihren eigenen Erfahrungen.
Zahme Berichte über die Warburg-Bank
Am Erscheinungstag des Romans zitierte der "Tagesspiegel" eine anonyme Stimme "aus der 'Bild'-Redaktion". Die dort arbeitende Person soll auf Nachfrage zum Buch gesagt haben: "Ganz im Ernst: Das interessiert auch keine Sau hier wirklich." Eine typische Abwehrreaktion? Gewiss, es spricht aber durchaus etwas dafür, dass der oder die Mitarbeitende das teilweise ernst gemeint hat.
Denn: Größere Sprengkraft als der Roman müssten eigentlich Recherchen des "Stern" haben, die Döpfners bis dato unbekannte Geschäftsbeziehung zur Hamburger Privatbank Warburg beschreiben. Demnach bekam der Medienmanager 2006 von der Bank einen Kredit von 60 Millionen Euro, um seinen Einstieg bei Springer per Aktienkauf finanzieren zu können. Das sei, wie der "Stern" schreibt, angesichts dessen, dass Döpfner als Sicherheit "im Prinzip nur die Aktien" zu bieten hatte, "deren Wert ja immer recht wacklig" sei, aus heutiger Sicht bemerkenswert.
Laut der "Stern"-Wiedergabe von Aufzeichnungen des Warburg-Bank-Gesellschafters Christian Olearius verband dieser mit dem Kredit die Hoffnung, dass er "die Bank an den Springer-Verlag heranführen" könne – und zwar "mit allen Möglichkeiten". Die Spekulation, dass die Heranführung gelang, ist durchaus zulässig, wenn man einen Blick darauf wirft, wie zahm Springer-Medien in den vergangenen Jahren teilweise über die Verwicklung der Warburg-Bank in den Steuerraubskandal Cum-Ex berichtet haben, durch den allein in Deutschland ein Schaden von 32 Milliarden Euro entstanden ist.
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Philippe Ressing
am 01.05.2023