Die sympathische Berlinerin im hellgrauen Hoodie hat es nicht leicht. "Wir sind Mitte zwanzig und gehen doch jetzt nicht nach Hause", erzählt sie bereitwillig vor laufender Kamera, "nachdem wir die ganze Woche gearbeitet haben." Auch in Hamburg oder in Düsseldorf, in München oder Stuttgart sind Fernsehteams unterwegs. Einigermaßen überraschend: Die Tonlage der Interviewten ähnelt sich. Mit deutlichem Übergewicht kommen diejenigen Jungen zu Wort, die die "Generation Feiern" vertreten, und diejenigen Älteren, die vor allem die grassierende Konfusion und die bundesweit uneinheitlichen Regeln beklagen. Es ist zwar nicht plausibel, dass es nicht viel mehr vernünftige und abwägende Stimmen gibt. Die bringen in der Einschätzung der Medienverantwortlichen aber ganz offensichtlich weniger Quoten und Klicks, also immer feste druff.
Schon seit Wochen, vor allem aber seit dem von "Bild" geschürten Hype um die Beherbergungsverbote ("Weg mit dem Ferien-Irrsinn", "Anwalt gibt heiße Tipps", "Berliner Familie verpfiffen"), verrutschen die Maßstäbe in der Berichterstattung gewaltig. Da will der SWR natürlich nicht abseits stehen. Für "Zur Sache Baden-Württemberg" zählt Alix Koch zuerst vergleichsweise sinnfrei die Menschen, die in der Stuttgarter Innenstadt keine Masken tragen. Und dann trifft sie investigativ Sophie und Patrick. Mehr als vier Minuten dürfen die beiden Bilder vom gutgefüllten nächtlichen Schlossplatz kommentieren oder von der überfüllten Töpferstraße. Ja ja, so geht es zu in der Innenstadt, bestätigen die beiden in immer neuen Varianten – allerdings mit nachgesprochenen Stimmen und anonymisierten Gesichtern als wären sie IS-AussteigerInnen. "Ich wollte nicht, dass sie Ärger bekommen, wenn sie mit mir reden", erklärt Koch die schräge Vorsichtsmaßnahme. Besser hätte sie Vernünftigen, die mit offenem Visier ihr Corona-Verhalten begründen, den gar nicht kleinen Sendeplatz eingeräumt. Vier Minuten sind lang in Radio oder Fernsehen.
In dubio pro mehr statt weniger
Die hätten auch genutzt werden können, um sich am heißen Thema Sperrstunde abzuarbeiten, womöglich sogar mit Zahlen, Daten, Fakten. Nach einer Verkürzung rufen viele, zumal solche, die nicht davon betroffen sind. Die längst und vielerorts belegten Konsequenzen kommen zu kurz: Partys und Feste werden unkontrollierbar in private Räume verdrängt, von den wirtschaftlichen Auswirkungen für WirtInnen mal ganz zu schweigen. "Wir wollen doch das Virus bekämpfen", sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), "und nicht die Gastronomie."
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Andreas S
am 21.10.2020