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20 Jahre Ract!festival Tübingen

Im Takt der Demokratie

20 Jahre Ract!festival Tübingen: Im Takt der Demokratie
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Es ist die größte Umsonst-&-Draußen-Party der Republik: das Tübinger Ract!festival. Am 6. und 7. Juni ließen rund 22.000 Feierwütige 44.000 Tanzbeine schwingen. Dabei geht es beim Ract! um weit mehr als um Musik.

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Trotz schlechter Wettervorhersage drängten am Wochenende unzählige Musikbegeisterte in den Tübinger Kastanienrondell-Park. Statt des angekündigten strömenden Regens strömten die Besucher:innen, die sich von ein paar fallenden Regentropfen ihre ausgelassene Stimmung nicht vermiesen ließen. Sie feierten, tanzten und schwitzten im leicht matschigen Gras zum Programm auf den drei unterschiedlichen Bühnen. Irgendwo zwischen Rap, Hip-Hop, Deutsch-Pop, Rock, Reggae, Ska, Punk und einer durch das lokale "Chaos macht Sterne"-Kollektiv gestalteten Electro-Stage wurde für jeden Musikgeschmack etwas geboten.

Seit 2023 im Kastanienrondell-Park. Platz für jede Menge Infostände!

Die Geschichte des Ract!festivals

2005 organisierten engagierte Jugendliche zum Erhalt des ehemaligen Depot-Areals das act!-Festival, dem anfangs noch das "R" im Namen fehlte. Doch bereits im Folgejahr entstand durch Zusammenschluss mit dem Räte-Open-Air, seit 1999 durch die Fachschaftsvollversammlung der Uni Tübingen im Alten Botanischen Garten organisiert, das Ract!festival. Jahrelang fand es im Park am Anlagensee statt, bevor der Neubau des benachbarten Busbahnhofs die Organisatoren 2022 dazu zwang, übergangsweise auf den früheren Schiebeparkplatz umzuziehen. Seit 2023 ist das Ract! nun im Kastanienrondell-Park beheimatet. Von der Grundidee her hat sich seit 2006 wenig verändert: Alle Interessierte müssen kommen können, Getränke sowie Verpflegung sollen bezahlbar sein und dem politischen Aspekt wird gleichviel Relevanz wie dem musikalischen Teil eingeräumt. "Das Ract! ist lebendiger Beweis dafür, dass die Jugend nicht so unpolitisch ist, wie man immer sagt", konstatiert Linda Rückschloss aus dem Orga-Team.  (era)

Dass es beim Ract! um weit mehr als "nur Musik" geht, wird bereits direkt hinter dem liebevoll gestalteten Eingangstor deutlich. Hier warten nicht wie bei vielen Festivals üblich erstmal Essensstände, Spirituosen-Hersteller und irgendwelche Unternehmen darauf, dem Publikum das Geld aus der Tasche zu ziehen oder die eigene Marke zu bewerben. Stattdessen flankieren die Kastanienallee in der Nähe des Tübinger Freibads verschiedene Infostände von Parteien, NGOs, politischen Initiativen und lokalen Arbeitskreisen. 

Die Anzahl der Stände ist im Vergleich zu vergangenen Festivals etwas geschrumpft, als einzige Partei ist in diesem Jahr Die Linke vor Ort. Deren Kreisvorstand Julien Dittbrenner freut sich über den "aktivistischen Teil" des Festivals: "Hier können wir Interessierte mit unserer Politik in Kontakt bringen, das hat für uns definitiv einen positiven Einfluss."
 

Politisierung als Nebeneffekt

Bevor an jedem Festivaltag die insgesamt drei Bühnen musikalisch bespielt werden, finden verschiedene Workshops statt, die im Sinne eines "Learning by Doing" politische Partizipation erlebbar machen wollen. Die Festivalgänger sollen keine passiven Konsumierenden sein, sondern vermittelt bekommen, dass Spaß und politischer Inhalt keinesfalls Gegensätze sind. Bei Workshopleiterin Coco von Amnesty International konnten FLINTA* beispielsweise ihre Wut auf das Patriarchat auf kreative oder körperliche Art ausgedrückt kanalisieren, um sie in eigene Kraft zu verwandeln. "Rage against Patriarchy" nannte Coco ihren Kurs, mit dem sie gerne das Ract!-Programm bereicherte: "Ich empfinde es als sehr wertvoll, dass Leute, die nur wegen der Musik kommen, auch Input auf politischer Ebene finden." Für viele Besucher:innen steht jedoch die Musik im Fokus, sodass sich der ein oder andere Workshop sicherlich über etwas mehr Zulauf gefreut hätte. Dennoch zeigte das pluralistische Info- und Workshop-Angebot auch 2025 eindrücklich, dass sich das Ract! seinen Titel als deutschlandweit größtes politisches Umsonst-&-Draußen-Festival redlich verdient.

"Wir schaffen einen Ort der Begegnung für Menschen, die sich gegenseitig bestärken, aber auch unterschiedliche Meinungen konstruktiv diskutieren", erklärt Simon Landwehr, der sich bereits seit 2007 im ehrenamtlichen Orga-Team für das Festival engagiert. Die Politisierung ist ein gewollter Nebeneffekt, der auch auf den musikalischen Teil des Ract! abfärbt. Linda Rückschloss, die dieses Jahr für das Booking mitverantwortlich war, erzählt: "Schaut man sich die Lage in der Welt an, erkennt man, dass viele Dinge nicht richtig laufen und dass man da dagegenhalten muss." So wurde auch die politische Haltung der gebuchten Artists immer wichtiger, wobei eine explizite Positionierung für die Bands und Künstler:innen jedoch keine Pflicht darstellt.

Hip-Hop ist grundlegend politisch

Als ein Headliner des Ract! performte am Freitagabend der Leipziger Rapper HeXer, für den es aktuell besonders wichtig ist, Gesicht zu zeigen: "Im Osten ist das nochmal anders. Da siehst du auf TikTok irgendwelche 16-Jährige, die vor einer Reichskriegsflagge im Hintergrund tanzen. Dieses rechte Gedankengut ist legitim geworden. Da unterstütze ich das Ract! gern beim gemeinsamen Kampf gegen den Rechtsdruck. Nicht nur Kunst an sich, vor allem Hip-Hop ist grundlegend politisch, da lasse ich meine Überzeugungen natürlich auch in meine Texte fließen. Aber ich bin Musiker geworden, weil ich Bock auf Kunst hatte und nicht weil ich politischer Aktivist werden wollte. Für mich muss das nicht so direkt sein, ich formuliere meine Kritik gerne ein wenig tiefer, versteckt und auf lyrische Art."

In seinem Song "Jeden Tag" klang das auf der Festival-Bühne vor im Beat mitnickenden Köpfen dann beispielsweise so: "Und es geht: Deutschland, Sachsen, Leipzig, Westplatz, stehe auf, 13:12. (...) Die Frau an der Kasse, die lächelt. Ich merke schnell, ja, die faked dis. Hustelt im Rewe, doch muss jeden Tag zu 'nem Aldi. Sag mir, was daran gerecht ist?"

Größer als die Summe seiner Teile

Neben aufstrebenden Szene-Größen und bekannten Artists bietet das Festival jedes Jahr auch lokalen Newcomern eine Bühne, die sich beim Ract! teilweise erstmalig einem größeren Publikum präsentieren können. Bereits zum zweiten Mal spielte sich die Tübinger Band Departure mit einer Mischung aus Indie, 90s-Grunge und Garage Rock in die Herzen ihrer Zuhörer:innen. Lucy (Bass), Hanna (Gitarre) und Eric (Schlagzeug) sind gerade einmal 18 Jahre alt und genießen das besondere Flair des Festivals, das ganz gut vom Abi-Stress ablenke. Als die drei Bandmitglieder von Departure gerade geboren wurden, saß Schlagzeuger Felix bereits das erste Mal mit einem Musikprojekt auf der Ract!-Bühne. 2014 gründete der Tübinger gemeinsam mit seinem Vater Wolf (Bass) sowie seinen beiden Mitschülern Max (Gesang) und Lorenzo (E-Gitarre) die Band Maxo and the Dudes. "Wir haben uns nicht nur bei der Ausbildung zum Krankenpfleger kennengelernt, auch der Kontakt zum Ract! kam darüber. Eine Ausbildungskollegin von uns engagierte sich bei der Festival-Orga und mittlerweile durften wir sechs oder sieben Mal auftreten", strahlt Felix, dem wie seinen Bandkollegen die Vorfreude auf den bevorstehenden Auftritt ins Gesicht geschrieben steht.

Ein hierarchiefreies Selfmade-Festival

Mit viel Idealismus wird das Ract! durch einen Trägerverein veranstaltet, bestehend aus einem Kernteam von circa 20 gleichberechtigten Personen, die sich neben wöchentlichen Plenen in einzelnen Arbeitskreisen wie beispielsweise dem Musik-AK, Grafik-AK oder Infra(struktur)-AK organisieren. Dazu kommen rund 250 jährliche Ehrenamtliche, die sich beim Bauzaunaufstellen, in Ordner-Schichten oder beim Pommesverkauf auf dem Festival engagieren. "In der Orga versuchen wir trotz einer gewissen Kontinuität aktiv Machtstrukturen und Wissenshierarchien zu zerschlagen, so dass es immer ein bisschen anarchisch und chaotisch bleibt", erzählt Simon Landwehr. Deshalb sei das Ract! auch gut aus der Pandemie gekommen, da wegen der durchlässigen Struktur neuen Interessierten der Einstieg in die Orga-Truppe erleichtert werde. Das Festival ist so konzipiert, dass alle mit ihren Fähigkeiten zum Gelingen des Ganzen beitragen können, und soll vermitteln: Demokratie lebt davon, dass man mitmischt. Finanziert wird das Festival in erster Linie durch den Studierendenrat der Uni Tübingen, den Kreisjugendring und die Stadt.  (era)

Am Samstagabend findet pünktlich um 24 Uhr das mittlerweile zwanzigste Ract!festival ein fulminantes Ende, auch wenn einige Gäste die Acts schwächer fanden im Vergleich zu vergangenen Jahren mit Szene-Größen wie Waving The Guns, Mal Élevé, Rantanplan, ok.danke.tschüss oder Kafvka. Doch spätestens die an beiden Tagen letzten Auftritte von den Punkrockern Schmutzki sowie der zehnköpfige Ska-Band SuitUp! konnten auch den kritischsten Ract!-Connaisseur überzeugen. Anders als Sängerin Jolle, die sich als Headlinerin nur 45 Minuten statt wie geplant 75 Minuten unsicher durch technische Schwierigkeiten kämpfte. Schade für ihre meist sehr jungen und weiblichen Fans, die gleich zwei Mal die Möglichkeit bekamen, Jolles viralen TikTok-Song "Alle Märchen sind gelogen" mitzusingen. Doch alles in allem bewies das Ract!festival erneut, dass ein Märchen definitiv nicht gelogen ist. Das Märchen eines hierarchiefreien Selfmade-Festivals ist wahr und pulsierte 2025 im Takt der Demokratie.

Simon Landwehr aus dem Orga-Team resümiert: "Dieses Gefühl, zusammen mit anderen etwas organisiert zu haben, das größer als die Summe seiner Teile ist, größer als wir, ist unbeschreibliches Glück. Das kann man fast nicht in Worte fassen, das muss man erleben." Die Möglichkeit dazu bietet sich wieder vom 12. bis 13. Juni 2026 – und hoffentlich noch zwanzig weitere Jahre.

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