Der Traum von der Selbstbefreiung der Rockmusik aus allen Zwängen war 1995 mal wieder ausgeträumt, Kurt Cobain tot, der Grunge-Hype zu Ende, der von Seattle aus um die Welt gegangen war. Her mit dem nächsten Trend. In Hamburg singt Dirk von Lowtzow selbstironisch "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk". Von Lowtzow ist Sänger der Band Tocotronic, sie zählen zu den Vertretern der sogenannten Hamburger Schule, die damals in der Musikpresse und den Feuilletons Furore macht. Max Rieger ist zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt. Er ahnt noch nicht, dass er 2010 mit Die Nerven eine Band gründen würde, die Stuttgart kurz den Ruf eines widerständigen Rock-Mekka einbringen wird.
2015 spricht der "Musikexpress" von einem neuen Seattle. Der Grund: Die Nerven und ein paar andere Bands wie Karies, Human Abfall oder Levin Goes Lightly, die jung und unangepasst drauflosmusizieren, zwischen Noise Rock, Punk und Post-Punk. Eine wichtige Anlaufstelle für sie sind die Waggons am Nordbahnhof, jene ungeplante künstlerische Bastion der Untergrund-Kunst, die Stuttgart 21 ungewollt hervorgebracht hatte, ihr erstes lautstarkes Lebenszeichen ist 2013 der Sampler "Von Heimat kann man hier nicht sprechen". Die Medien wittern dankbar das nächste große Ding und taufen es auf den Namen "Stuttgarter Schule".
Der Noise vor dem Medienlärm
"Der Vergleich zwischen Stuttgart und Seattle war eine witzige Überschrift für das, was stattgefunden hat", erinnert sich Flávio Bacon, Sänger von Human Abfall. Die Band debütierte 2014 mit dem Album "Tanztee von unten" und pausiert aktuell. Damals profitierte sie vom Stuttgart-Hype. Von verklärter Selbstbeweihräucherung ist der zweifache Vater aber weit entfernt. "Man sollte sich nichts vormachen", sagt Bacon. "Nur weil ein Magazin Stuttgart mit Seattle verglichen hat, ist die Stadt ja nicht cooler geworden. Kein Mensch ist hergezogen, weil hier so eine inspirierende Szene zuhause war."
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