Dabei wird das Publikum in der Illusion gewogen, dass es die Weisheiten Steiners von der Bühne herab quasi aus erster Hand empfangen könne. Denn der Meister spricht in der Stuttgarter Inszenierung von Beginn an durch die vierte Wand direkt zum Publikum – aus dem neunjährigen Hans, gespielt von Flinn Naunheim, in dem sich der Hellseher quasi reinkarniert hat. In der Figur des Kindes werden Ursprung und Gegenwart der Anthroposophie ineinander geblendet: Zum einen hat Flinn als Hans im Jahr 2024 gerade frisch zur Waldorfschule Uhlandshöhe gewechselt und illustriert mit seiner Familie den Alltag der anthroposophischen Praxis. Zum anderen durchlebt er als Rudolf Steiner für das Publikum noch einmal die Biografie des Hellsehers himself. Diese Doppelrolle meistert der Jungdarsteller mit Bravour. Wenn er als unheimlicher Gast aus dem Jenseits das Publikum über die anthroposophischen Geistwelten aufklärt oder mit seinen Bühneneltern aus spirituellen Gründen regelrecht "Schluss macht", beginnt es im Publikumsraum zu frösteln. Ganz sachlich klärt der Steinerknirps dann seine Mama darüber auf, dass sie sich mit dem Verlust des ersten Milchzahnes nun notgedrungen auch von ihrem ganzen Kind verabschieden müsse, denn nun werde sein von den Eltern geerbter physischer Leib durch einen geistigen Körper ersetzt. Während die Familie im materiellen Diesseits gefangen bleibe, schwinge sich das Kind ins Geistige empor. Eine gruselige Vorstellung, die allerdings an dieser Stelle mit der anthroposophischen Lehre nicht allzu viel zu tun hat.
Der "Ätherleib" soll gerade – so Steiner – für die Erziehung durch erwachsene Autoritäten empfänglich machen. Und, soviel Nerd-Wissen muss sein, er kommt bereits mit sieben, nicht mit neun Jahren über das Kind, zusätzlich zum physischen Leib. Das ist tatsächlich keine Petitesse, weil die anthroposophische Erziehung einem ebenso starren wie frei erfunden Entwicklungsschema folgt, wonach das Kind in sieben Jahresschritten erst mit dem Äther-, dann mit dem Astralleib und mit 21 dann doch tatsächlich auch mit einem Ich ausgestattet wird. Diese "Wesensglieder" legen fest, wann es in der Waldorfschule auf welche Weise mit welchen Inhalten konfrontiert werden kann.
Leider erfährt man sehr wenig über diese Erziehung Marke Steiner im gleichnamigen Stück. Der starre Autoritarismus und Schematismus der pädagogischen Praxis kommt nicht vor, dafür wird mit Pathos die abstrakte Phrase deklamiert, wonach jedes Kind in Waldorfschulen als einzigartiges Individuum mit besonderen Gaben und kreativem Potenzial angesehen werde. Ironisch oder affirmativ? Das lässt sich wie so oft an diesem Abend schwer sagen. Es wird wenig argumentiert, stattdessen viel suggeriert. Das liegt auch am "Enkeltrick": Weil Kindermund eben den Nimbus hat, Wahrheit kundzutun, erscheint sogar der verblasene Okkultismus Steiners präsentiert von einem Neunjährigen tendenziell als sympathisch bis glaubwürdig.
Erhellend ist das nicht
Der Familie von Hans hinter dem Spiegel im Jahr 2024 fällt im Stück erkennbar die Aufgabe zu, als klassische Waldorfeltern dem weltfernen Esoterik-Theater auf der Vorderbühne Alltag und etwas Witz einzuhauchen. Der selbstsichere Vater und Arzt (überzeugend Philipp Haus) steht dem Steiner-Hokuspokus kritisch gegenüber und weigert sich auch unter Alkohol seinen Namen zu tanzen. Theresa Dörr – stark als verletzliche und unsichere Mutter – sucht die Erfüllung als Waldorfmutter, freut sich am Theaterspiel des Sohnes und stört sich auch nicht an Feen und Geistern. Mit der kinderlosen Schwester (erratisch Mina Pecic) und deren freakigem Freund (breitbeinig Felix Strobel) aus Berlin ist das archetypische Elternquartett vollständig. Wenn der impfkritische Freidenker mit dem rationalen Mediziner zofft und die kinderlose Tante der behütenden Mutter die Sinnfrage stellt, schlagen die Dialoge durchaus Funken und viele Pointen zünden – auch, weil es mal nicht ums kosmische Ganze geht, sondern um komisches Kleines. Leider bleibt man meist an den zu oft gehörten Waldorf-talking-points hängen, statt die Diskussion dahin zu treiben, wo es politisch weh tun würde oder erhellend wäre.
So hängen schließlich die losen Enden vieler Dialogfetzen über der Bühne und eine Zahl steht unwidersprochen im Raum: 500 Milliarden verdienen Pharmaunternehmen an Impfpatenten, sagt der Impfkritiker. Das ist Fake, kein Fakt und soll illustrieren, wie uninformiert die Debatten zur Waldorfpädagogik ablaufen. Man wolle zeigen, was esoterisches Gedankengut zu Verschwörungstheorien beiträgt. Das erfährt man auf Nachfrage, auf der Bühne bleibt man lieber im Ungefähren. Auch dass Anthroposophen das Impfen deshalb skeptisch betrachten, weil es die Reinkarnation behindert, erfährt man hier nicht.
Steiners Rassismus wird weggewitzelt
Noch fahrlässiger, um nicht zu sagen skandalös ist der beiläufige Umgang mit Steiners Rassismus. Mehr als drei Sätze in 90 Minuten wollten die Autoren und das Staatstheater in diesen Aspekt offenbar nicht investieren. Dialog zwischen der Mutter und ihrem Quasi-Schwager: "Steiner war rassistisch?" "Okay, so in einem Absatz in einem Buch irgendwo ist er vielleicht ein klein bisschen rassistisch, aber kommt schon – man muss ja nicht alles ernst nehmen, was er sagt, nur das nehmen, was nützlich ist und den Rest wirft man weg" "Klar, genauso mache ich es mit 'Mein Kampf' auch." Das Rassismus-Thema reduziert auf einen Witz. Natürlich kritisch ironisch, aber eben auch nicht mehr.
Den Anthroposoph:innen wird’s gefallen, spiegelt das doch ziemlich exakt deren Umgang mit dem Rassismus-Problem im Gesamtwerk Steiners wider. Kleine Ausrutscher, die der Genialität seines Werks keinen Abbruch tun, "vereinzelte Formulierungen", die vom Rassismus seiner Zeit "mitgeprägt" wurden, wie es in der Stuttgarter Erklärung von 2007 heißt. Dabei geht es um mehr als um ein paar Sätze. Denn Anthroposophie ist im Grunde eine spirituelle Evolutionslehre, bei der sich der menschliche Geist auf dem Weg zur Vervollkommnung auch in immer höherwertigen Völkern verkörpert. Steiner geht dabei von einer "Stufenleiter der Rassen" aus: "Indianer" und Schwarze gelten ihm als degeneriert, Asiaten sind nicht zu selbständigem Denken fähig, nur die Weißen sind "die am Geist schaffende Rasse". Dieses Zitat von 1923 ist kein Betriebsunfall, sondern Kern und Fazit seiner Überzeugungen, so der wichtigste deutsche Steiner-Experte Helmut Zander. Das ist in Stuttgart hundert Jahre später offenbar immer noch nicht angekommen.
Auch der zweite Erzählstrang, in dem Steiners Biografie erzählt werden soll, ist nicht erhellender. Ein Leben voller Brüche und Widersprüche schnurrt auf eine Handvoll Begegnungen mit großen Geistern zusammen. Dabei wird der Eindruck erweckt, sein Weg habe von der ersten "Geister Erscheinung" als Kind geradewegs in die Esoterik der Anthroposophie geführt. Dabei war Steiner nicht immer auf dem Highway to Hellseher unterwegs. Er studierte Naturwissenschaft, promovierte zu Erkenntnistheorie. Die spannende Frage, wie und warum aus dem mittelmäßigen Forscher ein berühmter Esoteriker wurde, kann so nicht einmal gestellt werden.
Stattdessen heißt es, die Idee, "dass wir alle schon mal hier waren", habe ihn sehr berühmt gemacht. Dabei ist das Konzept der Reinkarnation natürlich ein sehr alter Hut. Sie gehörte auch zum Glaubenssortiment beim ersten esoterischen Arbeitgeber Steiners, der Theosophischen Gesellschaft. Er hat sie – wie so vieles – mitgehen lassen für seine eigene Esoterik.
Ein bisschen platt, ein bisschen lustig
Im Finale werden die Eltern und ihr materialistisches Leben für den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten verantwortlich gemacht, zu dem das zum Manne gealterten Kind verdammt ist. Besonders der egoistische Kauf hässlicher Möbel und schrecklicher Mahlzeiten sollen schuld sein am schlimmen Zustand der Welt. Diese platte, esoterisch gepimpte Kultur- und Konsumkritik kommt zwar aus dem Munde Steiners, hat aber mit seiner Idee von Evolution durch Wiedergeburt gar nichts zu tun. Das Theaterkollektiv jubelt dem Publikum hier seine eigene steile Zeitdiagnose unter.
Gegen Ende des Stücks sitzt Steiner dem Geschäftsführer der Stuttgarter Tabakfabrik Waldorf-Astoria Molt gegenüber. Emil Molt wolle den Leuten am Ende seines Lebens etwas anderes geben als Krebs: nämlich eine Schule – eine schön böse Pointe. Das Gespräch mit dem Sponsor und damit Namensgeber der ersten Stuttgarter Waldorfschule kondensiert noch einmal in wenigen Sätzen, warum die Aufklärung am heutigen Abend keine Chance hat. Der Fabrikant spricht tatsächlich die problematischen Ideen Steiners an – wie die Rolle des weiße Mannes als karmisches Schicksal der Menschheit – und schlägt vor: "Lassen sie uns eine freie Schule auf Grundlage ihrer Ideen gründen, ohne dass irgendjemand eine Ahnung hat, was diese Ideen sind." Dieses Konzept geht auch 100 Jahre später noch auf, auch im Staatstheater. Steiner stimmt zu und hängt noch seinen Werbeclaim hinten dran: "Jeder Schüler wird als einzigartiges Individuum mit besonderen Gaben und kreativem Potenzial angesehen." Dieses Versprechen wird doch das bisschen Rassismus aufwiegen Was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte, bleibt auch nach 90 Minuten ein Rätsel. Aber kann man Aufklärung verlangen von einer "metaphysical theatre company"?
3 Kommentare verfügbar
Hans
am 27.10.2024Aber peinlich für Stuttgart und seine beschränkte Intelligenzschicht. Ich weiß es aus eigener Anschauung: Sie hinkt der in weiten Teilen Deutschlands hinterher oder genauer: Sie schwebt astral zwischen Mercedesstern und Erdstrahlen, während andere für sie das Geld verdienen.