Letzteres erstaunt nicht, das vermeintlich Versöhnende schon eher. Im Orchester sollen sie sich darüber den Bauch gehalten haben. Friede im Graben und auf der Bühne? Nach dem ungeheuerlichen Vorfall am 13. Oktober vergangenen Jahres? Der russische Dirigent hatte es gewagt, Reid Anderson bei einer "Onegin"-Probe zu widersprechen, worauf der Schattenintendant ("You do what I tell you") ausgerastet war, und sich die amtierenden Chefs bemüßigt sahen, den Mann am Pult in die Wüste zu schicken. Der zweite Blick macht die Friedenslyrik schon verständlicher: Jener auf das Bühnenschiedsgericht in Frankfurt, das den Rausschmiss im März mit einem vernichtenden Spruch versah: Kündigung ohne wichtigen Grund, also ungültig. Vergesst es. So das Urteil bei der zweiten Verhandlungsrunde.
Und alles nur, weil Anderson ausgerastet war
Nun hätten die Granden vom Eckensee weiter machen können, über fünf Instanzen hinweg, aber da scheint ihnen doch das Licht aufgegangen zu sein, dass das öffentlich schwer vermittelbar war. Kaum war Peter Spuhler, der autokratische Intendant des Badischen Staatstheaters, mit einem goldenen Handschlag im hohen sechsstelligen Bereich verabschiedet worden, hätte Agrest zum nächsten Luxusfall werden können. Rund 200.000 Euro Abfindung nach Berechnung seines Anwalts, geldwerter Reputationsverlust nicht inbegriffen. Und alles nur, weil er in den Ohren von Altstar Anderson zu schnell dirigiert hat.
Darüber war auch der Dienstherr nicht mehr amüsiert. Sonst eher zurückhaltend, stets auf die Nicht-Zuständigkeit im Personalwesen verweisend, hielt sich das Ministerium für Wissenschaft und Kunst (MWK) bedeckt. Bis zu dem arbeitsrechtlichen Fiasko, aus dem eine "unerfreuliche Gesamtlage" erwuchs, welche es im Sinne der Ruhigstellung der Öffentlichkeit zu verbessern galt. Auch im Verwaltungsrat, in dem die politische Klasse das Sagen hat, reifte die Erkenntnis, es wäre klüger, die Kuh vom Eis zu schieben.
Kurzum, der geschasste Musikdirektor musste irgendwie beschäftigt werden. "Hoppla, Agrest ante portas", titelte Kontext im April und empfahl den Herren Anderson, Detrich und Marc-Oliver Hendriks, dem geschäftsführenden Intendanten, ihre Säbel im Eckensee zu versenken, ihr monarchistisches Machtgefüge zu durchlüften und ihre nächste Attacke vom Ende her zu denken.
Zumindest Hendriks, der Meister der "konsolidierten Kommunikation", scheint diesen Erkenntnisprozess bereits durchlaufen zu haben. Sonst eher zupackend, verweist er Anfragende sofort an die Abteilung Ballett, die jetzt den Kopf hinhalten soll.
Keine Premieren, keine Proben – was soll Agrest tun?
Kollege Detrich hat verstanden. Noch vor der Sommerpause bietet er Agrest ein Gespräch an, wobei erzählt wird, dass ihn weniger die intrinsische Motivation, die unter einer weiterhin für richtig erachteten Entlassung leidet, als die äußere Not getrieben habe. Entsprechend karg soll das Angebot ausgefallen sein: Keine Premieren, keine Proben, Vorstellungen nur nachdirigieren. Das geht, weil Premieren in Agrests bis August 2023 laufenden Vertrag nicht einklagbar sind. Für einen Künstler, der schon am Pult der Metropolitan Opera in New York, am Royal Opera House Covent Garden in London und der Dresdner Semperoper gestanden hat, ist das eine Demütigung. Der Betroffene schweigt dazu. Eine gemeinsame Pressemitteilung ("Wir freuen uns …"), wie ursprünglich gedacht, kann es damit nicht geben.
Eine singuläre Nachricht trifft noch kurz vor Redaktionsschluss ein. Die Kommunikationsdirektorin des Balletts, Vivien Arnold, meldet sich aus Berlin, wo sich die Kompanie zu einem Gastspiel aufhält. Auf die Frage, ob sie den Sinneswandel Detrichs zu erklären vermag, lässt sie nur wissen, dass er das Frankfurter Urteil "nun akzeptiert" und entschieden habe, es nicht "durch höhere Instanzen überprüfen zu lassen". Musikdirektor Agrest habe zugestimmt, seine Tätigkeit beim Stuttgarter Ballett wieder aufzunehmen, "selbstverständlich" habe er sein Gehalt nach dem Urteil rückwirkend bezahlt bekommen, derzeit fänden Gespräche zwischen den beiden Herren statt darüber, welche Dirigate Agrest in dieser Spielzeit übernehmen werde – "diese stehen noch nicht fest". Um Missverständnissen vorzubeugen, stellt Vivien Arnold auch noch klar, dass ein Musikdirektor "nicht alle Vorstellungen" des Stuttgarter Balletts dirigiere. Das sei auch beim Vorgänger von Herrn Agrest so gewesen.
Unter diesen Umständen dürfte das von Detrich beschworene Gemeinsame noch eine ziemlich einsame Angelegenheit werden. Für Mikhail Agrest. Es sei denn, das Angebot des Personalrats findet nicht nur in ihm einen dankbaren Abnehmer. "Wenn gewünscht", sagt die Vorsitzende Angelika Vater, "helfen wir, wo und wem wir können". Das gelte auch für die Intendanz.
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