Mit einer Hochzeit beginnt die in den frühen fünfziger Jahren spielende Geschichte, und mit einer Hochzeit könnte sie auch enden. Dazwischen liegen pralle sechs Stunden Film, aufgeteilt auf sechs Serien-Folgen, in denen von vier indischen Mittel- und Oberschichtsfamilien erzählt wird, vor allem von einer Beamten-Witwe (Mahira Kakkar), die ihre 19-jährige Tochter Lata (Tanya Maniktala) an den richtigen Hindu-Mann bringen will, und von Maan (Ishaan Khatter), einem leichtlebigen Politiker–Sohn, der sich unstandesgemäß in eine Sängerin und Kurtisane verliebt. Klingt ein bisschen nach Jane Austen, nach so etwas wie "Stolz und Vorurteil" auf indisch?
Ein wenig erinnert "A suitable Boy" tatsächlich an daran. Aber diese neue BBC-Adaption eines 1993 erschienenen und zum modernen Klassiker gewordenen Romans von Vikram Seth erzählt nicht nur von den Wirrnissen der Liebe, sondern auch von den ersten Jahren des unabhängig gewordenen Staates Indien, vom Kastensystem und der Kluft zwischen Arm und Reich, von Landreformbestrebungen und ersten Wahlen, von den Reibereien zwischen Muslimen und Hindus, die in Pogrome umschlagen können. Die Politik, die in Austens Tochter-Verheiratungs-Geschichten in den Hintergrund gedrängt wird, klopft hier also mit Macht an die Tür und stellt den Primat des Privaten in Frage.
Die in Indien aufgewachsene und seit langem zwischen Westen und Osten pendelnde Regisseurin Mira Nair ("Salaam Bombay!"; "Jahrmarkt der Eitelkeiten") hat den walisischen Drehbuchautor Andrew Davies sogar dazu gedrängt, den Schwerpunkt der Story auf die Politik zu legen, so dass sich in Latas Geschichte jene der Entstehung des neuen Staates spiegelt. Das gelingt recht gut, weil ja auch die Liebe bei Mira Nair immer eine politische Komponente hat, selbst wenn dies nicht die Absicht der "Beteiligten" ist, ja selbst wenn ihnen dies gar nicht bewusst ist. Wenn eine Frau sich etwa einer arrangierten Ehe widersetzt und sich selber umschaut, wird die Liebe zu einer potenziell revolutionären Kraft, welche die Grenzen zwischen Kaste, Klasse, Clan oder Religion überwinden will.
Grenzüberschreitungen mit Bollywood-Athmo
Das könnte natürlich tragisch enden. Die Literaturstudentin Lata unternimmt in ihrer fiktiven Heimatstadt Brahmpur eine romantische Flussfahrt mit ihrem muslimischen Kommilitonen Kabir (Danesh Razvi), den sie gar nicht kennen dürfte, und man denkt sofort an die Liebe von "Romeo und Julia". Bloß dass "A suitable Boy" bald zwei weitere Heiratskandidaten ins Erzählfeld führt, einen selbstbewussten Poeten aus reicher Familie und einen eher schüchternen Selfmade-Man und Schuhmacher, beide durchaus ernst zu nehmen – und beide von Lata auch ernst genommen. So dass der Zuschauer also wieder weggeführt wird vom Shakespeare-Schicksal-Stück und erneut hinein in Jane Austens mildere Gefilde von Verstand und Gefühl. Die tragische Variante trifft hier den tatsächlich unsterblich verliebten Maan, der seine Eifersucht nicht zügeln kann.
"A suitable Boy" wurde vor Ort gedreht, es ist auch die erste größere BBC-Produktion, deren Hauptdarsteller nicht weiß sind. Dass sie allerdings englisch (mit indischem Akzent) sprechen – und nur manchmal Hindi oder Urdu – wurde in Indien kritisiert. Noch schlimmer allerdings fanden Hindu-Nationalisten, dass die Serie sich nicht zu ihrem Sprachrohr macht, sondern auf Versöhnung aus ist. In den frühen neunziger Jahren, als der Autor Vikram Seth seinen Roman schrieb, hatten Hindus in provozierender Absicht einen Tempel neben eine Moschee gebaut, ein Vorgang, den Seth in seine Geschichte aufnahm und kritisierte. Und auch in Mira Nairs Romanverfilmung ist dies immer noch – oder schon wieder – ein Kommentar zum wiederaufgeflammten und aktuellen Hindu-Nationalismus.
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