Wie eine Dorfgemeinschaft, wie eine Familie zerbricht, das führt der Film mit einem exzellenten Ensemble vor. Johanna Wokalek ist als still in sich hinein leidende Frau zu sehen, die ihre Sängerinnenkarriere zugunsten ihres Mannes Max aufgegeben hat. Maria-Victoria Dragus spielt Siggis ältere Schwester Hilke, die es aus dem beklemmenden Elternhaus herausgeschafft hat, nun aber wieder eingefangen zu werden droht. Und Louis Hofmann, mit der Serie "Dark" zum Star geworden, hat sich als Siggis älterer Bruder dem Krieg durch Selbstverstümmelung entzogen und irrt nun schwer verletzt herum. Soll Siggi seinen Vater alarmieren, oder sollte er den Bruder doch lieber zu Max bringen? In der Tragödie des Siggi Jepsen verbirgt sich auch ein Klassen- und Konkurrenzkampf. Wenn die dämmrig-engen Räume des Wachtmeisters Jens kontrastiert werden mit dem großen Salon des Malers Max, wenn sogar die Frisuren der beiden Männer gegeneinander anzutreten scheinen – streng gescheitelt die eine, künstlerisch verwuschelt die andere –, dann schwingt dabei der Neid des Kleinbürgers auf den freigeistigen Bohemien mit. Und beide Männer sehen sich ja nicht nur als Väter, sondern auch als Vorbilder für Siggi.
Ein fürchterliches Vorbild, was Jens betrifft. Auch und gerade deshalb, weil der exzellente Ulrich Noethen diesen Mann nicht als eindimensionale Scheißkerl-Charge vorstellt, sondern als einen, der Siggi auf seine Weise liebt ("Ich mach aus Dir was Brauchbares") und sogar über dessen Kopf streichelt, während er ihn schlägt. "Runter mit den Hosen!", so hat Jens vorher befohlen, und spätestens diese ritualisierte Prügelsequenz erinnert an einen anderen Film und einen anderen autoritären Charakter, nämlich an Michael Hanekes "Das weiße Band" (2009) und an den von Burghart Klaußner verkörperten protestantischen Pastor. Dieser ebenfalls in einem norddeutschen Dorf angesiedelte Film, den Haneke im Untertitel "Eine deutsche Kindergeschichte" nennt, spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg, er weist sozusagen auf die Nazi-Zeit voraus.
Schwochows "Deutschstunde" erzählt nun genau von dieser Zeit, aber sie hört mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht auf. Das ist das ganz Große, Bittere und Verstörende an diesem Film: Dass er uns nicht in Ruhe lässt, dass Jens nach einer Internierungszeit zurückkehrt ("Ja, da bin ich wieder!"), dass er nach einem kurzen und brutalen Machtkampf mit Siggi wieder das Kommando übernimmt, dass sowieso und ganz selbstverständlich wieder alle Polizisten-, Gestapo- und sonstigen Angestelltengesichter wieder auftauchen und alles einfach weitergeht. So als wäre nie etwas gewesen. Jawohl, die Pflicht ruft, und sie freuen sich! Und an dieser Stelle muss man wieder an jenen Satz erinnern, den Hans Filbinger, Jurist, NSDAP-Mitglied, Todesstrafebeantrager und später baden-württembergischer Ministerpräsident im Jahr 1978 gesagt hat: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!" Er hatte also Lenz' Deutschstunde entweder geschwänzt oder nicht verstanden. Oder einfach ignoriert, weil er ja selber so gut Bescheid wusste über die Freuden der Pflicht.
Christian Schwochows "Deutschstunde" ist ab Donnerstag, 3. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.
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