Dieses Schreien! Diese akustische Aggressivität!! Dieses hemmungslose Wutgebrüll!!! Können die Scheiben diesem Schalldruck standhalten oder werden sie zerspringen, so wie damals beim zornigen kleinen Oskar Matzerath, dem kleinen Blechtrommler und größten Schreier der deutschen Literatur- und Filmgeschichte? Die Betreuer und Erzieher hinter der Glasfront schauen fassungslos verängstigt zu, wie da draußen ein Kind (ebenso exzellent wie nervtötend: Helena Zingel) namens Benni tobt, ein neunjähriges Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen. Und tatsächlich, jetzt kriegt die dicke Scheibe Sprünge! Aber nicht wegen der Schreie, sondern weil Benni einen Bobby Car mit voller Wucht dagegen geworfen hat. Die vom Dokumentarfilm herkommende Regisseurin Nora Fingscheidt führt ihr Spielfilmdebüt nämlich nicht ins Metaphorische des magischen Realismus, sie erzählt schmerzhaft konkret.
Schmerzhaft ist das für alle. Für das traumatisierte Mädchen, das jederzeit außer sich geraten kann. Für die Helfer in den Institutionen, die mit diesem Kind überfordert sind. Und auch für die Zuschauer im Kinosaal, die sich vor Bennis Ausrastern zu fürchten beginnen. "Systemsprenger", so nennen manche Pädagogen hinter vorgehaltener Hand solche Kinder, und so nennt nun auch die Regisseurin ihren Film, für den sie lange und penibel recherchiert hat. Was sie zeigt, ist eine aus mehreren Fällen herausdestillierte und dann in einer Person konzentrierte Fallgeschichte. Doch, doch, das sei im Wesentlichen schon realistisch geschildert, so haben dies nach der Pressevorführung miteingeladene Fachpädagogen bestätigt. Ein Extremfall zwar, aber durchaus möglich. Dieser Schulbegleiter Micha allerdings (Albrecht Schuch), der habe sich unprofessionell verhalten. So etwas dürfe natürlich nicht passieren.
Überbordend, das Kind wie der Film
Dieser zunächst so selbstsicher-taff wirkende Micha bietet im Film an, als letzte Möglichkeit, sich drei Wochen lang in einer Eins-zu-Eins-Situation um Benni zu kümmern. Er zieht mit dem Mädchen, das schon so oft aus Schulen, Pflegefamilien und Heimen rausgeflogen ist, in eine Hütte im Wald, ohne Fernseher, ohne Strom und vor allem ohne andere Menschen. Ist er diesem Kind gewachsen, füllt er die im Kino so gern gesehene heldische Rolle des Erziehers aus, der die Geschichte zu einem guten Ende bringen wird? Eine Zeitlang sieht es so aus. Benni erkundet die neue Umgebung, lässt sich ein auf dieses Leben, ruft auch mal, um das von Micha versprochene Echo zu hören, in den Wald hinein: "Mama!" In Micha sieht sie bald einen Vater, den sie, als er schläft, liebevoll-neugierig begutachtet. Benni kann nämlich mit manchen Erwachsenen gut umgehen, sie hat ein Gespür dafür, wer sie mag. Deshalb schafft sie es auch, dass Micha eine Grenze überschreitet und sie "ausnahmsweise" in seinem Haus und bei seiner Familie übernachten lässt.
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