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Die Dokumentation "Vom Bauen der Zukunft – 100 Jahre Bauhaus" zeichnet nicht nur die Geschichte der legendären Architekten- und Künstlerschmiede nach. Sie stellt auch neue Konzepte vor, zum Beispiel Favela-Projekte in Südamerika.

Wenn man in einem Film, sagen wir mal über Van Gogh, als erstes ein Bild von Gauguin präsentiert bekäme, wäre man etwas irritiert. Etwa so wie in diesem Film über das Bauhaus, der zum Auftakt ein Gebäude des Bauhaus-Konkurrenten Le Corbusier zeigt und dieses auch noch ausführlich vorstellt. Es ist die zwischen 1947 und 1951 entstandene, 56 Meter hohe, 165 Meter lange und nicht ganz unumstrittene Wohnmaschine "La Cité Radieuse" in Marseille, bei der ein Erzähler von "menschlichem Maß" spricht und eine zufriedene Bewohnerin einen Blick in die Räume gewährt. Danach findet Niels-Christian Bolbrinkers und Thomas Tielschs Dokumentarfilm "Vom Bauen der Zukunft – 100 Jahre Bauhaus" aber doch den Weg zu den Anfängen jener experimentellen Institution, die Walter Gropius 1919 in Weimar gründete, die später nach Dessau zog, sich dann unter dem Druck der Nazis auflöste und trotzdem weiter und nun auch weltweit das moderne Bauen beeinflusst.

Doch das Bauhaus war weit mehr als nur eine Architektur-Schule, es ging Gropius und seinen Mitstreitern, darunter etwa Johannes Itten, Paul Klee und Wassily Kandinsky, um ein Zusammendenken und -führen von Handwerk, Kunst und Bauen, es ging ihnen also um ein interdisziplinäres Projekt. In den Fotos und Filmen, die das Regie-Duo Bolbrinker und Tielsch aus den Archiven ausgegraben hat, ist beides spürbar: eine schöpferische Euphorie, die aus alten Zwängen hinaus ins Freie und in die Zukunft drängt, und ein bisschen auch ein ins Sektiererische hineinwabernder Gruppengeist, der sich die Welt als Spielwiese ausmalt. In gewichtig raunendem Ton verkündet der Erzähler: "An jedem Weg liegen Perlen", spricht aber auch von einem "esoterisch gefärbten Konzept". Gemeinsam wohnen, arbeiten und feiern, das gehörte beim Bauhaus zusammen und kulminierte in legendären Festen. Dass das Apartmenthaus der Bauhausmitarbeiter extrem hellhörig war, wird im Film als gewollt (v)erklärt, es habe die Kommunikation begünstigt.

"Der neue Mensch", so heißt ein Kapitel dieser mit jazzig-experimenteller Musik unterlegten Doku, in der heutige Bauhaus-Experten und, was oft dasselbe ist, Bauhaus-Enthusiasten sehr ernst mit Holzblöcken das Gropius'sche Baukastenprinzip ("Ein modulares System für Typenhäuser") vorstellen, sich mit Oskar Schlemmer, dem Schöpfer des Triadischen Balletts, befassen und aus farbigem Papier Körper zusammenbasteln, die "den Raum definieren", oder ein Choreograf in einer Mischung aus digital generierten Räumen und durch Fäden markierten Mustern Kandinskys Formenlehre nachtanzt. So viele Aktivitäten, so viele Details! Im Großen und Ganzen aber ging es dem Bauhaus um die Frage, wie der Mensch leben will. Oder auch, wie Kritiker manchmal (zunächst allerdings nicht in diesem Film) anmerken, wie der Mensch leben soll. Denn so faszinierend kreativ am Bauhaus auch gedacht und gearbeitet wurde, so elitär und anmaßend war doch die Vorstellung, zwar für den Menschen zu planen, aber eben nicht immer mit dessen Beteiligung. In seiner Polemik "From Bauhaus to our House" von 1981 hat der Reporter, Essayist und Romancier Tom Wolfe ("Fegefeuer der Eitelkeiten") behauptet, dass in Bauhaus-Häusern niemand arbeiten und wohnen wolle.

Immerhin: Der von Gropius beauftragte Ingenieur Ernst Neufert hat damals berechnet, wie groß der Wohnraum für eine vierköpfige Familie sein müsse, oder "dass ein Mensch 55 cm Platz zum Putzen seiner Badewanne braucht, aber 105 cm, um sich den Rücken quer zur Wanne trocken zu reiben." Die in einer Bauentwurfslehre festgehaltenen Erkenntnisse Neuferts, so der Film, führten dann auch "zur Normierung der Dinge, wie wir sie heute kennen". Und das, was diesen Film dann trotz aller Einwände sehenswert macht, ist der nun folgende Sprung aus der Historie heraus in dieses Heute. Was das Bauhaus betrifft (oder auch Le Corbusier) wird er nun auch kritischer, etwa in Sachen "Charta von Athen", diesem Architektentreffen von 1933, dessen 1943 veröffentlichte Postulate bis in die Achtziger Jahre hinein wirkten und mitverantwortlich waren für das inzwischen als kapitaler Irrweg begriffene Konzept von der "autogerechten Stadt". 

Am interessantesten aber wird diese Dokumentation merkwürdigerweise dann, wenn sie sich vom Bauhaus entfernt und beispielsweise eine klassenzimmerfreie Schule in Dänemark vorstellt (wenn auch ein bisschen zu kurz) oder ein Minihaus in Berlin, das für wohnungsknappe Städte gedacht ist. Oder wenn sie den Aktivitäten der Architekturprofessoren Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner nachgeht: Als die beiden 1998 zum gemeinsamen Arbeiten in den Slums und Favelas von Südamerika aufbrachen, sei ihnen schnell klar geworden, so die Doku, dass die "Lebens- und Baurealität in den Wohnvierteln nichts mit dem zu tun hatte, was sie über Fassadenbau und Formgebung gelernt hatten. Sie fingen mit einer Arbeit an, die sie heute aktivistische Architektur nennen und mit der nun das interdisziplinäre Kollektiv Urban Think Tank mit Büros in Zürich, Caracas, New York und Sao Paolo weltweit erfolgreich ist." Bilder von in steile Hänge hineingebaute Sportanlagen sind nun zu sehen. Oder von Seilbahnen, die nicht nur die hügelige Topografie überschweben, sondern auch dafür sorgen, dass die Armen besser in die Infrastruktur der Städte eingebunden sind. Nein, nach Bauhaus sehen diese Projekte nicht unbedingt aus. Aber irgendwie weht dessen schöpferischer Geist doch durch sie hindurch.

 

Info:

Niels Bolbrinkers und Thomas Tielschs Dokumentation "Vom Bauen der Zukunft – 100 Jahre Bauhaus" kommt am Donnerstag, den 26. April in die deutschen Kinos. In Stuttgart läuft er im Atelier am Bollwerk, donnerstags und samstags um 15.40 Uhr, freitags und sonntags um 18.15 Uhr. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link https: www.kino-zeit.de external-link-new-window>finden Sie hier.


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 14 Stunden
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