Ein majestätischer Blick von oben auf eine weite Landschaft. Und da unten, ganz klein, der fünfjährige Saroo (Sunny Pawar). Doch dieser indische Junge mit den großen braunen Augen fühlt sich nicht verloren. Er ist zwar bitterarm, haust mit der Mutter und dem älteren Bruder Guddu in einer dunklen Hütte, spürt aber jeden Tag familiäre Liebe und Geborgenheit. Und Saroo steckt auch voller Optimismus und Energie, begleitet Guddu auf dessen Wegen an den Schienen entlang, hilft ihm, Kohlen zu sammeln (oder zu klauen), lässt sich einfach nicht nach Hause schicken. Bis er dann so müde ist, dass er kaum mehr laufen kann. Er soll an den Gleisen warten, bis der Bruder von einem letzten Streifzug zurückkehrt. Saroo steigt schließlich in einen leeren Waggon, setzt sich in ein Abteil, schläft ein.

Als er erwacht, hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, die Türen sind geschlossen, er kommt nicht mehr raus. Lange, lange dauert die Fahrt. Durch Schlitze in den Jalousien sieht der verzweifelte Saroo Landschaften vorbeiziehen, sieht einen Fluss, einen Wasserturm oder einen Bahnsteig, aber es geht weiter und weiter, und als er endlich aussteigen kann, findet sich der Junge vom Land in einer riesigen Stadt wieder, die er nicht kennt und deren Sprache er nicht spricht. Saroo ist in Kalkutta gestrandet, wo man nicht Hindi hört, sondern Bengali. Und wenn die Kamera ihn auf Augenhöhe begleitet, also Saroos Blick auf die über ihm wogenden Menschenmassen übernimmt, dann teilt sich auch dem Zuschauer ein bisschen von seiner Verlassenheit mit.
Saroo ist in den Dschungel der Großstadt gefallen, und so aufgeweckt er auch ist: Er wird ihn nicht so beherrschen können wie einst der junge Mowgli den seinen. Saroo bleibt ein kleiner Junge, und wie er sich in der Erwachsenenwelt zu behaupten versucht, das erinnert weniger an Kiplings indische Märchenwelten denn an Charles Dickens' Londoner Straßen- und Elendsszenen in "Oliver Twist". Saroo kauert nachts in einer Unterführung allein neben anderen Kindern, bekommt mal – eine große, wortlose Geste – ein Stück Pappkarton zum Schlafen zugeschoben, flieht vor einer Razzia, gerät an eine vermeintliche Helferin, die ihn einem Pädophilen zuführen will, und landet schließlich im Waisenhaus. Nein, den genauen Namen seines Heimatorts oder den seiner Mutter weiß Saroo nicht. So wird er schließlich zur Adoption freigegeben und findet, als wär's eine ins Globale ausgeweitete Dickens-Paraphrase, im australischen Ehepaar John und Sue Brierley (David Wenham und Nicole Kidman) verständnisvolle Ersatzeltern.
1 Kommentar verfügbar
Fred
am 26.02.2017