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Die Welt muss brennen

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Der russische Regiestar Kyrill Serebrennikov ist in Stuttgart mit einer exzellenten „Salome“-Inszenierung im Opernhaus bekannt geworden. Im Kino erzählt er nun die Geschichte eines Schülers, der zum christlichen Fundamentalisten wird.

Eine korpulente Frau mittleren Alters stapft die Treppe eines Mietshauses hoch, schließt ihre Tür auf, drückt sofort den Fernseher an, schnauft dann weiter durch die abgewohnten Räume und stößt schließlich auf ihren halbwüchsigen Sohn Wenja (Petr Skvortsov), der von ihr eine Entschuldigung für den Schwimmunterricht verlangt. Die Mutter wirkt überfordert. Sie hat drei Jobs zu bewältigen und weiß nicht mehr viel von ihrem Jungen, der längst in der Pubertät steckt. "Nimmst du Drogen?", fragt sie ihn und vermutet dann, er wolle wohl nicht ins Bad, weil ihn der Anblick der Mädchen aufreizen und die Mitschüler seine Erektion sehen könnten. Aber nein, wehrt er solche Mutmaßungen verächtlich ab und befiehlt seiner Mutter: "Schreib: Aus religiösen Gründen!"

Nun zieht der hagere Wenja ins Feld gegen eine Gesellschaft, die er als verdorben geißelt. Seine Waffen sind trotzige Verweigerung und schwere Anklage mittels scharfer Sätze aus seiner schon sehr durchwühlten Taschenbibel. "Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen...", zitiert er aus dem Evangelium nach Lukas (Kapitel 12, Vers 49). Oder, in Bezug auf die Bikinimädchen im Schwimmunterricht, aus dem ersten Brief an Timotheus: "Auch sollen die Frauen sich anständig, bescheiden und zurückhaltend kleiden." Immer wieder droht er per Bibel mit schwerer Strafe, etwa seiner allein erziehenden, besser: seiner allein nicht erziehenden Mutter, die durch ihre Scheidung zur Sünderin geworden sei. Und pauschal allen "Verführern zum Bösen", für die es laut Evangelium nach Matthäus, Kapitel 18, Vers 6 besser wäre, "mit einem Stein um den Hals im Meer versenkt zu werden." Den biblischen Fundstellen hat der Filmrezensent übrigens nicht nachrecherchiert, der Regisseur blendet sie jeweils selber ein.

Die Darstellung glänzt durch Glaubwürdigkeit

Kirill Serebrennikov heißt dieser 1969 im russischen Rostov geborene Regisseur, der mit zahlreichen Film-, Theater- und Operninszenierungen bekannt wurde und schnell zum internationalen Regiestar aufgestiegen ist. In seiner Stuttgarter "Salome" etwa (von März an wieder im Programm) führt er die Richard-Strauss-Oper ohne krampfhaft-oberflächlichen Modernisierungs-Schnickschnack in die Gegenwart und in eine stringente Auseinandersetzung mit unterdrückter Sexualität, religiösem Fundamentalismus, westlicher Dekadenz und Tugendterror. In diesen Aufführungen spricht der unbeugsame Prophet Jochanaan seinen Text in arabischer Sprache. Und natürlich denkt der Zuschauer auch in Serebrennikovs Film "Der die Zeichen liest" immer über den biblischen Ursprung der fundamentalistischen Sprüche hinaus, beziehungsweise: er denkt in diese Geschichte auch den Islam hinein.

Trotzdem ist der sich in langen Einstellungen mit Spannung aufladende Film weniger zur parabelhaften Versuchsanordnung geworden als Marius von Mayenburgs Theater-Vorlage "Der Märtyrer". Der deutsche Autor und Dramaturg hat sein 2012 an der Berliner Schaubühne uraufgeführtes (und recht einhellig als zu holzschnittartig verrissenes) Stück in ein Land hineingeschrieben, in dem die christliche Religion ihre Bibel entschärft hat durch Relativierung, durch Auslegung und Interpretation.

Nur ein paar Sekten brennen noch und nehmen die Schrift wörtlich, aber auch sie rufen nicht mehr auf zu feurigen Taten. Die Verlagerung der Handlung nach Russland jedoch holt diese Geschichte, in der von der Sprengkraft des radikalen Glaubens in einem eher säkularen Umfeld erzählt wird, wieder aus der bloßen Theorie heraus und lässt sie auch in ihrer christlichen Variante als möglich und realistisch erscheinen.

Die orthodoxe Kirche ist eben immer noch, vorsichtig gesagt, sehr konservativ geprägt, vor allem aber hat sie inzwischen wieder großen Einfluss auf den russischen Staat und die Gesellschaft. Wie schwankend der Grund ist, auf dem diese scheinbar liberaler gewordene russische Gesellschaft steht, zeigt sich dabei nicht nur an den Worten und Taten des Hauptprotagonisten Wenja, sondern auch an den Reaktionen darauf: Verunsicherung, Unbehagen, Verharmlosung und Anbiederung. Oder: ausweichen, abwiegeln, verharmlosen und nachgeben. Im Lehrerzimmer zum Beispiel kann sich das Kollegium zu keiner richtigen Haltung durchringen, im Gegenteil. 

Nicht so einfach, diese Welt

Die Mädchen zeigten im Bikini wirklich zu viel Haut, sagt die in wodkaseliger Stimmung auch mal alten Zeiten nachhängende Rektorin und erlässt ein Badeanzugsgebot. Dem dicken Popen und Religionslehrer käme Wenja sogar gerade recht, wenn der seinen rigorosen Glauben bloß innerhalb der Kirche verkünden würde. Nur die junge Biologielehrerin Elena (Victoria Isakova) tritt dem Vorschlag ihrer Kollegen, neben der Evolutionslehre auch noch gleichberechtigt die Lehre der christlichen Schöpfung zu unterrichten, vehement entgegen. So spitzt sich in diesem nach dem Eskalationsprinzip funktionierenden Film alles auf ein Duell zwischen Elena und ihrem Schüler zu.

Was genau den asketisch-kurzhaarigen Wenja antreibt, wird nicht erklärt, aber man kann es erahnen. Die Zumutungen der Aufklärung! Die verwirrende Vielfalt des Lebens! Die unterdrückte Sexualität! Die Suche nach Halt, Richtung und Ziel! Da ist es doch gut, sich die Welt ganz einfach, eng und dunkel zu machen. Die Möbel rauszuwerfen, die Blümchentapeten abzureißen, die Fensterscheiben zuzukleben. Und vor allem: die Lösung für das Leben in einem einzigen Buch zu finden. In der Bibel ist doch alles geschrieben, besser noch: ist alles vorgeschrieben. Die als heilig und nicht diskutierbar ausgegebene Schrift setzt einen wie Wenja aufs hohe Ross und macht ihn unangreifbar. Wie er seine Macht spürt, wie er seinen Ekel zelebriert, wie er seine Überlegenheit genießt! Sogar ein behindertes Mobbingopfer zieht er sich als ihn bewundernden Jünger heran. Elena aber weicht vor Wenja nicht zurück, auch wenn sie alle Mitstreiter verloren hat.

"Der die Zeichen sieht" ist ein hellsichtiger und gerade deshalb bedrückender Film - aber auch einer mit sehr lustigen Sequenzen. Wenn Elena im Sexualunterricht Kondome und Möhren verteilt oder Wenja im Affenkostüm über die Schulbänke tobt, schiebt der Regisseur das Geschehen sogar in die Satire hinein. Der fanatische Schüler fungiert in dieser Geschichte als Katalysator, er beschleunigt einen Prozess, der in dieser Gesellschaft schon angelaufen ist. Wenn sich Wenjas bibelunterfütterter Hass auf Juden, Schwule oder diese widerspenstige Lehrerin zu einer Tat zusammenbraut, ist das freilich nicht mehr komisch. Das vielleicht Traurigste in diesem Film aber ist das Schicksal von Elena, die in ihrer Isolation ihrerseits zu einer Missionarin wird. Sie vertieft sich nun ihrerseits in die Bibel, um Wenja mit Zitaten kontern zu können. Doch werden "heilige" wirklich zu guten Schriften, nur weil in ihnen auch Friedliches zu finden ist? Nein. In dem Moment, in dem sich die Atheistin Elena auf Wenjas religiöse Ebene einlässt, hat sie auch schon kapituliert.

 

Info:

"Der die Zeichen liest" von Kyrill Serebrennikov kommt am Donnerstag, 19. Januar in die deutschen Kinos. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>finden Sie hier.

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