Eine korpulente Frau mittleren Alters stapft die Treppe eines Mietshauses hoch, schließt ihre Tür auf, drückt sofort den Fernseher an, schnauft dann weiter durch die abgewohnten Räume und stößt schließlich auf ihren halbwüchsigen Sohn Wenja (Petr Skvortsov), der von ihr eine Entschuldigung für den Schwimmunterricht verlangt. Die Mutter wirkt überfordert. Sie hat drei Jobs zu bewältigen und weiß nicht mehr viel von ihrem Jungen, der längst in der Pubertät steckt. "Nimmst du Drogen?", fragt sie ihn und vermutet dann, er wolle wohl nicht ins Bad, weil ihn der Anblick der Mädchen aufreizen und die Mitschüler seine Erektion sehen könnten. Aber nein, wehrt er solche Mutmaßungen verächtlich ab und befiehlt seiner Mutter: "Schreib: Aus religiösen Gründen!"
Nun zieht der hagere Wenja ins Feld gegen eine Gesellschaft, die er als verdorben geißelt. Seine Waffen sind trotzige Verweigerung und schwere Anklage mittels scharfer Sätze aus seiner schon sehr durchwühlten Taschenbibel. "Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen...", zitiert er aus dem Evangelium nach Lukas (Kapitel 12, Vers 49). Oder, in Bezug auf die Bikinimädchen im Schwimmunterricht, aus dem ersten Brief an Timotheus: "Auch sollen die Frauen sich anständig, bescheiden und zurückhaltend kleiden." Immer wieder droht er per Bibel mit schwerer Strafe, etwa seiner allein erziehenden, besser: seiner allein nicht erziehenden Mutter, die durch ihre Scheidung zur Sünderin geworden sei. Und pauschal allen "Verführern zum Bösen", für die es laut Evangelium nach Matthäus, Kapitel 18, Vers 6 besser wäre, "mit einem Stein um den Hals im Meer versenkt zu werden." Den biblischen Fundstellen hat der Filmrezensent übrigens nicht nachrecherchiert, der Regisseur blendet sie jeweils selber ein.
Die Darstellung glänzt durch Glaubwürdigkeit
Kirill Serebrennikov heißt dieser 1969 im russischen Rostov geborene Regisseur, der mit zahlreichen Film-, Theater- und Operninszenierungen bekannt wurde und schnell zum internationalen Regiestar aufgestiegen ist. In seiner Stuttgarter "Salome" etwa (von März an wieder im Programm) führt er die Richard-Strauss-Oper ohne krampfhaft-oberflächlichen Modernisierungs-Schnickschnack in die Gegenwart und in eine stringente Auseinandersetzung mit unterdrückter Sexualität, religiösem Fundamentalismus, westlicher Dekadenz und Tugendterror. In diesen Aufführungen spricht der unbeugsame Prophet Jochanaan seinen Text in arabischer Sprache. Und natürlich denkt der Zuschauer auch in Serebrennikovs Film "Der die Zeichen liest" immer über den biblischen Ursprung der fundamentalistischen Sprüche hinaus, beziehungsweise: er denkt in diese Geschichte auch den Islam hinein.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!