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Zorn auf das System

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Der palmengekrönte Siegerfilm von Cannes "Ich, Daniel Blake" erzählt von einem älteren Handwerker in Newcastle, der nach einem Herzinfarkt in die Mühlen des Sozialstaats gerät – und dagegen ankämpft. Ken Loach inszeniert die Realität mit ansteckendem Zorn, meint unser Filmkritiker.

Der Schreiner Daniel Blake, nach einem Herzinfarkt von seiner Ärztin arbeitsunfähig geschrieben, wird von einer "Gesundheitsdienstleisterin" angerufen. Noch sind in diesem Film keine Bilder zu sehen, nur ein absurd anmutender Dialog ist zu hören. Eine maschinenhaft fragende Frau, die keinen Millimeter von ihrem abzuarbeitenden Formular abweicht, und ein Mann in zunehmender Verzweiflung, der sich und seine Situation in diesen Fragen nicht wiedererkennt. "Können Sie einen Hut aufsetzen?", will sie wissen. "Ja", sagt er, "aber es geht um mein Herz!" Es ist zum Lachen. Und es ist zum Heulen. Denn das ist ja kein missglücktes Gespräch unter Gleichberechtigten, sondern ein einseitiges Verhör, das existenzvernichtende Konsequenzen haben kann. Daniel Blake, ein Mann Ende fünfzig, wird nach diesem Telefonat für gesund und arbeitstauglich erklärt.

Und so findet sich dieser Witwer (Dave Johns), ein stämmiger Kahlkopf aus Newcastle, in einem Teufelskreis wieder. Auf Sozialhilfe hat er keinen Anspruch, Arbeitslosengeld dagegen werde, so wird ihm erklärt, nur an Gesunde ausgezahlt. Daniel will eine Nachprüfung beantragen und gerät in endlose telefonische Warteschleifen ("Drücken Sie die Taste eins ... Drücken Sie die Taste vier ..."); er soll ein Formular ausfüllen, das es angeblich nur online gibt, sitzt irritiert vor Bildschirmen, tippt nervös und zögerlich herum, bis ihm wieder ein Fehler gemeldet wird oder die Eingabezeit abgelaufen ist; er muss zu einer lächerlichen Fortbildung, in welcher der Seminarleiter zuerst auf die Diskrepanz zwischen den wenigen offenen Stellen und der Masse der Bewerber hinweist und dann fordert: "Sie müssen sich aus der Masse hervorheben!"

Der mittlerweile achtzigjährige Regisseur Ken Loach, der für diesen Film mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet wurde, ist selber ein Arbeiterkind. Er hat mit einem Stipendium an der Eliteuniversität Oxford studiert, wurde aber nie zu einem Aufsteiger, der seine Wurzeln abstreift, sondern blieb seiner Herkunft, seinem Milieu, seiner Klasse treu. Das heißt in seinem Fall: er hat in Filmen wie "Kes" (1969), "Riff-Raff" (1991), "My name is Joe" (1998) oder "Looking for Eric" (2009) einen solidarischen Blick auf seine Welt geworfen und große Geschichten aus ihr erzählt. Geschichten voller Empathie, Humor und Gefühl – und fast immer gespeist aus einer klassenkämpferischen Wut über die Zustände, in die seine Protagonisten hineingezwungen sind.

Ken Loach kämpft für "seine" Arbeiterklasse

Die Helden in Ken-Loach-Filmen ergeben sich freilich nicht, jedenfalls nicht von vornherein. Sie haben ihren Stolz, ihre Würde, ihre eigene Kultur, sie leisten Widerstand, sie können dabei zunächst noch vertrauen auf den Beistand der Familie, der Freunde, der Nachbarn und der Kollegen, also auf eine selbstbewusste Arbeiterklasse. Doch spätestens seit Maggie Thatchers neoliberaler Kriegserklärung an die da unten ("So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht!") ist Ken Loach nicht nur zum Chronisten seiner Klasse geworden, sondern auch zu dem ihres Niedergangs. Doch resignieren kann und will er nicht: Wenn die arbeitslosen Arbeiter für ihr Schicksal selber verantwortlich gemacht werden, wenn der britische Boulevardjournalismus sie als Schmarotzer denunziert und TV-Comedys sie zum Auslachen freigeben, setzt Loach etwas dagegen. Zum Beispiel einen großartigen Film wie "Ich, Daniel Blake".

Der Regisseur zeigt sich hier auf der Höhe seiner Kunst. Wie schnell zum Beispiel aus seinen Figuren plastische Charaktere werden! Weil eben nicht nur wichtig ist, was sie sagen, sondern auch wie sie es sagen und unter welchen Umständen. Und wie präzise Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty ihre langen Recherchen für diesen Film verdichtet und in Form gebracht haben! Es ist eine Kunst, die freilich gar nicht als solche auffallen will, ganz selbstverständlich stellt sie sich in den Dienst des ökonomischen Erzählens und schafft dabei nicht nur eine große Spannung, sondern erreicht auch etwas, was solchen Milieu-Filmen oft nicht zugetraut wird: narrative Eleganz.

Daniel ist einer, der sich kümmert. Den Mann, der seinen Hund vor dem Wohnblock auf den Rasen kacken lässt, scheißt er zusammen. Dem jungen schwarzen Nachbarn, mit dem er an sich gut auskommt, bedeutet er, den Müll nicht einfach vor der Haustür stehen zu lassen. Und im Job-Center wird er Zeuge, wie Katie (Hayley Squires), eine aus London kommende Mutter mit zwei Kindern, zu spät zu ihrem Termin kommt, weil sie sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Newcastle noch nicht auskennt. Sie wird durch Kürzung ihrer Sozialleistungen sanktioniert, und darüber regt Daniel sich so laut auf, dass er vom Security-Personal vor die Tür gesetzt wird.

Trotz seiner eigenen prekären Lage kümmert er sich nun um die kleine Familie, macht als Handwerker deren verrottete Bude wieder halbwegs wohnlich, spielt mit den Kindern, bastelt ein Mobile. Immer noch findet Loach in der längst deklassierten Arbeiterklasse also Reste von Solidarität. Aber unter dem Druck der Verhältnisse droht nun jederzeit der Absturz in die Verwahrlosung. Einmal geht Katie zu einer Tafel, wo Kleidung und Essen für die Armen ausgegeben wird. Sie ist so hungrig, dass sie sich – eine herzzerreißende Szene! – nicht zurückhalten kann und ebenso gierig wie voller Scham sofort eine Dose öffnet.

Das Arbeitsamt – eine kafkaeske Strafbehörde

Der "decision maker" werde ihm irgendwann telefonisch mitteilen, wie es mit ihm weitergehe, so wird Daniel beschieden. Der "Entscheidungsträger"! Das klingt nicht mehr nach Arbeitsamt, sondern nach einer allmächtigen und anonymen Strafbehörde bei Kafka oder Orwell. Aber es ist britische Realität und es hat System. Es gehe den Arbeitsämtern längst nicht mehr darum, den Menschen zu helfen, sagt Loach, sondern darum, "ihnen Steine in den Weg zu legen". Wenn eine Mitarbeiterin sich tatsächlich mal des Falls Daniel Blake annimmt, wird sie von ihrer Vorgesetzten gemaßregelt. Es werde nämlich, so Loach, "von oben eine gewisse Anzahl von Sanktionen gegen Arbeitssuchende erwartet."

"Ich, Daniel Blake". Der Titel ist ein Anspruch, ein Aufschrei, ein trotziges Statement. Der Held dieses Films, der ein Mensch sein will und keine Nummer in einer Statistik, hat die staatlichen Schikanen irgendwann so satt, dass er dieses Statement an die Wand des Job Centers sprüht, verbunden mit dem Verlangen nach einem Termin für eine Nachprüfung, "bevor ich verhungere". Und auch noch mit einem Nachsatz, der dazu auffordert, endlich die "Scheißmusik" in der telefonischen Warteschleife zu ändern. Wer in diese Warteschleife gerät, der ist nämlich in der "Vivaldi-Hölle" gefangen. Wahrscheinlich ist es nur schulterzuckender Behörden-Wurschtigkeit zuzuschreiben, dass die Job-Center-Klienten Klassik in einer unerträglichen Synthesizer-Version zu hören bekommen. Es wirkt aber wie verhöhnende Absicht.

Im Kino läuft zur Zeit auch "Paterson", ein weiterer und viel gelobter Film über einen so genannten kleinen Mann, auch er gedreht von einer Größe des Weltkinos, nämlich von Jim Jarmusch. Es ist eine Hymne auf den Alltag eines Busfahrers, auf die Routine, auf das Private, auf die kleinen Dinge. Der Held ist ein Freizeitlyriker, eines seiner Gedichte widmet sich beispielsweise einem Bleistift, und überhaupt zieht sich in diesem Film alles eng zusammen und wird dabei ganz märchenhaft lieb und putzig. Mit diesem leicht melancholischen, man könnte auch sagen: resignativen Film hat sich Jarmusch ins filmische Biedermeier zurückgezogen und ist zum Spitzweg des Kinos geworden. Ken Loach dagegen bleibt in unserer Welt, inszeniert mit schmerzlicher Genauigkeit und ansteckendem Zorn. Er hofft übrigens, dass sich gerade jetzt eine "neue europäische Linke" formiert.

 

Info:

Ken Loachs "Ich, Daniel Blake" kommt am Donnerstag, den 24. November in die deutschen Kinos. In Stuttgart läuft der Film im Atelier am Bollwerk um 15.30 und um 20.20 Uhr, sonntags nur um 20.20 Uhr im Original mit Untertiteln. Welches Kino den Film in Ihrer Nähe zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche external-link-new-window>sehen Sie hier.

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1 Kommentar verfügbar

  • cource
    am 26.11.2016
    Antworten
    was nützen uns solche filme, wenn der politiker oder richter gegen den betroffenen entscheidet
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